Joachim Castella
I.M.A.G.E.
Institut für Medienanalyse und Gestalterkennung
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Das Defizit: Die Hohlform der Logik.
Eben auf der Schwelle dieses Jahrhunderts leitet Edmund Husserl seine Logischen Untersuchungen mit einem Zitat aus der Einleitung der großen Logik John St. Mill's ein. Mill beklagt darin ein halbes Jahrhundert zuvor die disparate Vielfalt einer Disziplin, die wie keine andere von der Diskrepanz durchzogen sei zwischen dem stets und stereotyp formulierten Anspruch, eine Einheit zu bilden - und der methodologischen Wirklichkeit. Husserl setzt die eigene Einleitung mit einer wesentlich unveränderten Diagnose fort, genauer, er konstatiert die Verschlimmerung der Lage und schließt sich notgedrungen dem Seufzer des Engländers an, um in den folgenden Kapiteln neben Mill die gesamte Logik-Elite für die zu beklagende Zersplitterung verantwortlich zu machen. 2222 Jahre nach Aristoteles also und 113 Jahre nach der Kantischen Stillstandserklärung der Aristotelischen Erfindung sieht der bis dahin unbekannte jüdische Dozent sich genötigt, mit dem ganzen Gewicht von rund tausend Seiten noch einmal die disziplinären Irrungen und Wirrungen zur Disziplin zu rufen - der Einheit der Logik wegen.
Kaum dreizehn Jahre später, gewiß aber neunundzwanzig, wird die minutiöse und akribische Suche nach der Einheit der Logik Husserl selbst in die Annalen der Philosophiehistorie als weiteren Schöpfergeist eingetragen haben, der die breitgefächerte Kunstlehre des Denkens erneut um eine eigene Kunstfertigkeit bereichert hat: die phänomenologische Logik. [1] -
Wir verlassen das Anekdotische und rechtfertigen diese Erinnerung mit dem Hinweis, daß die Logik offensichtlich in Schwierigkeiten gerät, wenn sie den eigenen Universalitätsanspruch tatsächlich ernst nimmt. Darum nämlich geht es: Die Logik begreift sich als universal, weil sie als reine Logik formale und abstraktive Theorie des Denkens schlechthin sein will; die Applikationsfähigkeit und Legislativkraft "der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i. der Logik", reicht als "Kanon des Verstandes und der Vernunft" bis an die Ränder des Kosmischen, "aber nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle". [2] So entrichtet die Logik für die Maximierung und Totalisierung ihrer Extension den Tribut der vollständigen Ausblendung ihres materialen Gehaltes, und alles könnte sein Bewenden haben, wenn nicht der Anspruch der formalen Universalität bereits eine verborgene Aporie implizierte: Wenn die Logik als reine Formenlehre ihre Materie in der Austauschbarkeit egalisiert, wenn sie allumfassende Form für beliebig substituierbaren Inhalt sein will, dann darf die universale Einheitsform keine qualitative Unterscheidung ihrer Inhalte kennen; sie mögen sein, welche sie wollen, in jedem Fall homogenisiert das Reinheitsgebot der Form sie in die substitutionstechnisch notwendige, materiale Irrelevanz des bloßen, indifferenten und frei variablen Inhalts. Der Kanon des Verstandes, die logisch kanonisierte Vernunft erscheint als Vermögen, als dynamis und potentia, ist der auffangbereite Kübel, der seit Frege dann als ungesättigte Funktion auf die Besetzung ihrer Leerstellen durch wechselnde Argumente harrt.
Doch gerade hier, wo ihn die moderne Logik in die Klarheit des symbolischen Kalküls transferiert, unterminiert sich der universale Anspruch am deutlichsten. Mit Beobachtern operierende Systemtheoretiker würden von blinden Flecken sprechen, wenn die Übersetzung des logischen Programms in die Formelsprache des reinen Denkens, wie Frege seine Begriffsschrift untertitelt, die Kollision des weitest möglich gesteckten Rahmens sinnfällig in der Unmöglichkeit offenbart, daß Argumente je etwas sein können, als eben Argumente. Die logische Materie, die Inhalte treten ausschließlich als Argumente auf, die dazu dienen, die ergänzungsbedürftigen Leerstellen der Funktion, der Form zu komplettieren; ihr Definitionsbereich - sie mögen sein, welche sie wollen "ist das All des Denk- und Vorstellbaren, das bei geeigneter Einsetzung aus offenen Aussageformen wahre Urteile werden läßt. Argumente dabei sind logische Gegenstände, und "Gegenstand ist alles, was nicht Funktion ist, dessen Ausdruck also keine leere Stelle mit sich führt.", schreibt Frege die Unterscheidung eindeutig fest, [3] die auch dadurch keine Aufweichung erfährt, daß Funktionen mitunter an die Stelle der Argumente rücken können. Ganz im Gegenteil eröffnet das placet, das Frege den Funktionen ausspricht, auch Argument für Funktionen höherer Ordnung sein zu dürfen, den Reigen der Funktionen zweiter und n-ter Stufe, [4] und die zugrunde liegende Ordnung/Unterscheidung von Funktion und Argument bleibt im damit angelegten infiniten Regress unangetastet. Denn: "Dies gilt allgemein: das Zeichen einer Funktion ist ungesättigt, bedarf einer Ergänzung durch ein Zahlzeichen, das wir dann Argumentzeichen nennen", [5] und dessen wesentliche Supplement-Funktion durch die Grundsatzentscheidung definiert wird, "daß das Argument nicht mit zur Funktion gehört". [6] Rücken Funktionen hier an die Stelle der Argumente, so sind sie unwiderruflich Argumente, und ausgeschlossen damit ist, daß Funktionen als Funktionen Argument werden, daß Formen selbst und zwar als Formen zum Inhalt und Thema von Formen avancieren, daß also das Regelwerk selbst sich zum Gegenstand der eigenen Regelung macht. Hier führt die Reinheit der Formalität, mit der die Logik ihre Universalität begründet, zu dem definitiven Verdikt, daß die als Vermögen, dynamis, konzipierte Form des Denkens je als energeia, actus, als realer Vollzug des Denkens thematisiert wird, daß in der Logik das aktuale In-formieren der Form zugleich als Inhalt erscheint, ohne seine logische Rolle, Form zu sein, aufgeben zu müssen. "Diese Trennung des Urteilens von dem worüber geurteilt wird, erscheint unumgänglich" [7] und verunmöglicht so, daß das prozessierende Subjekt der Logik selbst je eine objektive Gestalt annehmen kann, die seine Subjektivität nicht unterminierte.
Wird solches trotz allem versucht, starten etwa Kant und Husserl den Versuch, auch die subjektiven Modi am Urteil einzufangen, so ist das Ergebnis in beiden Fällen ein Überborden der Logik. Transzendentallogik bei dem einen und transzendentale Logik, resp. Phänomenologie bei dem anderen gebärden sich gerade nicht mehr als klassische, formale Logik, wenn sie den blind spot der Logik, das Subjekt, zu erhellen suchen. Hier, wo die Logik es unternimmt, nicht nur die konstituierenden Faktoren am Urteil, das Urteilen als subjektive Leistung zu erfassen, vielmehr auch diese Leistung selbst in Ansehung und Abhängigkeit der materialen Gehalte noch zu differenzieren, transformiert sich Logik in Erkenntnistheorie und offenbart im Umkehrschluß die defizitäre Verfassung der Logik als eine zwangsläufige: Die Ausblendung der materialen Aspekte am Logischen, das Selbstverständnis der Logik als rein formale Theorie, involviert unmittelbar das Durchstreichen des logischen Subjekts; die dem Subjekt reservierte Form - "denn nicht der Stein liegt in der Seele, sondern seine Form" [8] - ist als potentiell allumfassende dazu verurteilt, das All des Denkbaren gerade ohne den Prozeß des Formatierungsaktes der Welt und ohne den Ausgangspunkt dieses Prozesses zu denken; Form und Subjekt sind der Logik allein regulative Ideen, die wohl jeden logischen Akt müssen begleiten können, die sich aber der Selbstthematisierung von vornherein entziehen.
Hier verbinden sich Form und Subjekt zu dem einen Pol, dem Inhalt und Objekt als zwar notwendige Korrelate gegenüberstehen, doch haben philosophische Gegensätze ihre bloß antagonistische Unschuld spätestens verloren, seit Derrida uns erinnert, daß hinter metaphysischen Oppositionen stets auch das Herrschaftsgefüge einer Hierarchie verborgen ist. [9] Objekt und Inhalt rangieren so in ihrer Austauschbarkeit als das Uneigentliche, Nicht-Wesentliche an einer Strukturtheorie, die das Material der regelgeleiteten Manipulation allein zum Zweck der Demonstration, Explikation, Verifikation, Falsifikation ihrer formalen Schlußweisen instrumentalisiert, und die dies kann, weil die logische Thematisierung die Gegenstände gerade nicht auf ihr Wesentliches hin befragt: Abstraktion, d.h. das Aussondern und Selektieren einzelner, für die Logifizierung relevanter Merkmale gerät zum Urgestus des Logikers, der sich so die Prädikabilität seiner Urteilsform sicherstellt. Hypokeimenon und kategorumenon, das Zugrundliegende und das, was darüber auszusagen ist, figurieren von Anbeginn die Apophantik, und obgleich hypokeimenon noch mit subiectum übersetzt wird, ist die ohnehin dünne Spur des Subjekts, die Aristoteles noch im Urteil kennt, lange schon getilgt. Aristoteles, und mit ihm die Tradition, die ihm folgt, zollt der ontologischen Präferenz, Wesen und Substanz als Träger akzidenteller Eigenschaften zu denken, den Tribut, der die metaphysische Dominanz des hypokeimenon in der logischen Betonung des Satz-Subjekts als einem selbständigen, zugrundeliegenden und einheitsstiftenden Fundament für darauf aufsitzende Prädikate wiederkehren läßt. Doch die ontologische, erkenntnistheoretische und bis heute gültige Umorientierung am Beginn der Moderne verlagert die Dominanz im logischen Satz auf das Prädikat: das Wesen wird nicht mehr auf sein (aus der Natur) rezeptiv erfahrbares Was-sein befragt, sondern sein Wie-sein als attribuierende und pradizierende Erkenntnisleistung des Vernunftvermögens rückt in den Vordergrund, und das Satz-Subjekt gerät in "eine abhängige Rolle gegenüber dem Prädikat, das als grammatischer Repräsentant des Begriffs das Gegenstands-Subjekt in seinen Dienst nimmt, um sich zu ergänzen und zu vervollständigen." [10] Hier dann haben sich die Verhältnisse dahin reguliert, daß die Satz-Subjekte eben diese Attribuierung nur noch als grammatikalische Qualität verdienen, denn sie sind nicht mehr autonome Zugrundeliegende, sondern verfügbare Gegenstände, Objekte des Souveräns der logischen Form, der ihnen - Kant sei es gedankt - die Kategorien seinem transzendentalen Gusto gemäß testiert. Vollgültig instantiiert damit ist die Apohantik als Ort der Objektivation, dem nichts Selbständiges mehr zu Grunde liegt. Vollständig vergessen jedoch ist der alte Nexus, der bis Leibniz noch ein Bewußtsein dafür offen hielt, daß die Substrate der Logik und Ontologie koinzidieren, daß Logik und Ontologie nur medial verschiedene Zugänge zum Seienden bedeuten, das sich in seiner ontologisch-metaphysischen Seinsweise als Inhalt gerade nur so aufschließt, wie die Form logischer Quantifizierung und Qualifizierung dies determiniert.
Es ist die von Leibniz vollzogene Scheidung des Inhalts von seiner Form, der die neuzeitliche Logik durchaus ihren "Sonnenaufgang" verdankt, [11] einen lichtvollen Progreß, dem allerdings lange Schatten folgen, wenn die rein formalen Regeln nunmehr "so formuliert werden müssen, daß man bei ihrer Anwendung an die inhaltliche Bedeutung der Ausdrücke, auf die sie angewendet werden, überhaupt nicht mehr zu denken braucht." [12] Logik und Mathematik analogisieren sich, und gänzlich verdunkelt wird so die Möglichkeit, daß die formale Logik in formalisierter Form, daß die Logistik also, wie die symbolische Logik auf dem Genfer Philosophenkongreß 1904 schließlich von Couturat getauft wird, als mathematisches Lavieren im calculus ratiocinator die Geschlossenheit des rein syntaktischen Ableitungssystems je in Richtung einer philosophischen Relevanz verläßt. Kein Inhalt trübt länger die reine Formalität symbolischer Logik, ein Opfer, das hinreichend mit dem Aufstieg der Logistik belohnt wird, wenn sie in der Grundlagenkrise - obgleich nicht unumstritten - die Geometrie als apriorische Letztbegründung der Mathematik, mithin der Rationalität schlechthin ablöst.
Der Kompensationsversuch von innen: Mehr Inhalt in die alte Form.
Bleibt die solcherart erfolgsverwöhnte Logistik als Abstraktion der Abstraktion im deduktiven Formalismus beschlossen, dann hat sie sich bereits weit von ihrer Schwester, der klassischen formalen Logik entfernt, die sich mit Macht gegen den drohenden Terrain-Verlust sträubt. Die Kuzformel: "Logiker denken. Logistiker rechnen." [13] zeigt schlagwortartig die Distanz an, die innerhalb der Disziplin zwischen formalen und formalistischen Vertretern herrscht, und die sich um ein gutes Stück vergrößern läßt, wenn die ganze Aufgeregtheit dieser methodologischen Streitigkeit noch mit dem Anspruch konfrontiert wird, den wir von Husserl bereits als das Einklagen der subjektiven und materialen Seite am logischen Urteil kennen. "Die Lehre von dem Etwas oder den Etwas überhaupt, d. i. von Gegenständen überhaupt als Substraten möglicher prädikativer Sinne, die sollen in fortgehender Prädikation einstimmig urteilbar sein können, ist die formale Ontologie. Sie ist nur eine korrelative Betrachtungsweise der Lehre von den einstimmigen Urteilen überhaupt und den Formen, in denen sie sich zu konsequenten einstimmigen Urteilssystemen zusammenschließen. Eine voll umfassend gedachte apophantische Logik ist von selbst eine formale Ontologie, und umgekehrt eine voll ausgeführte formale Ontologie von selbst eine formale Apophantik." [14] Logik und Ontologie als duales System - Husserl entläßt die Logik nicht aus ihrer inhaltlichen Verantwortung, aus der sich schon die formalen Logiker im Stile Arnauds, Erdmanns, Sigwarts, daran anknüpfend Jacoby und Freytag, zu stehlen suchen; von den syntaktischen Logistikern ganz zu schweigen. Das Motiv Husserls, auf der inhaltlichen Füllung der Logik zu beharren, ist dabei das direkte Ergebnis seines Kampfes wider den Psychologismus: Wenn der Psychologismus die triadische Schnittmenge von Logik - Denken - Psychologie bildet, in Verkennung der "Unterschiede zwischen Idealgesetz und Realgesetz, zwischen normierender Regelung und kausaler Regelung, zwischen logischer und realer Notwendigkeit, zwischen logischem Grund und Realgrund", in Verkennung also der Differenz "zwischen idealen und realen Objekten", [15] sowie der apriorischen Geltung und kontingenten Anwendung der logischen Gesetze, [16] dann setzt die anti-psychologistische Distinktion Husserls, "daß unter subjektiven Bedingungen der Möglichkeit hier nicht etwa zu verstehen sind reale Bedingungen [...], sondern ideale Bedingungen, die in der Form der Subjektivität überhaupt und in deren Beziehung zur Erkenntnis wurzeln", [17] ihn unter Zwang, nicht nur die idealen Objekte der Logik als Inhalte vorrangig zu behandeln, sondern auch den subjektiven Modus ihrer logischen Thematisierung als nicht-psychologistischen zu dechiffrieren. Das Abwehrgefecht fordert zu positiver Konkretion, und die noetisch-noematische Doublette, als welche diese simultane Einheit von Form und Inhalt, von Prozeß und Produkt in Abhängigkeit vom begrifflich-urteilenden Erkennen des Subjekts dann innerhalb der konstituierenden Phänomenologie reüssiert, erwächst somit aus der scheinbar paradoxen Notwendigkeit, die Reinheit der Logik vor dem "ungesunden psychologischen Fette" [18] gerade auf jenem Weg zu bewahren, der ihr als reiner Formenlehre erstmals die Genuinität ihres Inhaltes sichert.
Erscheint dieser aber in der klassischen Theorie aufgrund der Form-Inhalt-Dichotomie notwendig als Supplement der Form, dann ist es von hier aus nicht mehr weit zu der Einsicht, daß die klassische Logik als formale nur die eine Seite des logischen Spektrums abdeckt, daß ihr gegenüber eine subjektive Ergänzung einzufordern ist, "welche das Subjektive der Erkenntnis überhaupt und der Erkenntnis aller Gegenstands- und Wissenschaftsgebiete systematisch erforscht." [19] Das Ziel ist mithin eine "universale Wissenschaft von diesem Bewußtseinsmäßigen und einer Subjektivität überhaupt, die und insofern sie jederlei 'Objektives', objektiven Sinn und objektive Wahrheit jeder Art, im Erkenntnisleben gestaltet, [...] also thematisch alles mögliche Subjektive des Erkennens aller Wissenschaft in ähnlicher Weise [umspannt], wie eine Logik in ihren Begriffen und Gesetzen thematisch alles mögliche Objektive aller Wissenschaft umspannt. Anders ausgedrückt, eine Logik als rationale Wissenschaft von der Objektivität überhaupt [...] hätte als notwendiges Gegenstück eine Logik des Erkennens, eine Wissenschaft, und auch vielleicht eine rationale Wissenschaft von der Erkenntnissubjektivität überhaupt [...]." [20]
Zwar wird Husserls Ringen um eine rationale Wissenschaft der Erkenntnis-Subjektivität ihn von der Logik entfernen, doch zeitigt der von ihm etablierte Anspruch einer Verknüpfung der inhaltlichen und formalen Aspekte seine Konsequenzen in der mathematischen Logik, um sich dort so weit zu etablieren, daß die symbolische Logik schließlich indirekt und nach rund sechzig Jahren Anlaufzeit auch dem zweiten Husserlschen Postulat zumindest ansatzweise Rechnung tragen wird: der notwendigen Korrelation von materialem Gehalt und subjektiver Thematik.
Denn mathematische Logik erschöpft sich in der Mitte dieses Jahrhunderts schon über zwei Dezenien nicht mehr in reiner Syntax, auch wenn Freytag, Jacoby und Albrecht dies geflissentlich übersehen. Am Beginn der 30er Jahre setzt mit Tarski vielmehr eine Entwicklung ein, von der die Logistik sich nicht zu unrecht den wesentlichen Ausbruch aus der Beliebigkeit der Interpretation ihrer Kalküle erhofft. Dabei sind es die Logischen Untersuchungen, die in Polen produktiv rezipiert werden, konkret die Kriterien Husserls, mit denen er apriori die Substitution einfacher und zusammengesetzter Ausdrücke gegen Unsinn und Widersinn zu entscheiden sucht: Die Bedeutungskategorien, d.h. eine Typik kategorialer Strukturen, die als Klassen diejenigen Elemente umfassen, deren freie Substitution rein syntaktisch keinen kontextuellen Widersinn produziert. [21] So entwickelt - unter Berufung auf Husserl - bereits Adjukiewicz gemeinsam mit Tarskis Doktorvater Lesniewski eine kategoriale Grammatik auf der typentheoretischen Stufung der Bedeutungskategorie in Grund- und Funktorenkategorie im Sinn der rein logischen Grammatik Husserls, [22] doch es bleibt Tarski vorbehalten, diesen Einfluß zur definitiven Berühmtheit zu modulieren, wenn er sowohl auf der Bedeutungskategorie seine semantische Kategorie aufbaut, wie seinen Wahrheitsbegriff in Anlehnung an den Erfüllbarkeitsbegriff Husserls formuliert. [23]
Spätestens mit der deutschen Fassung vom Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen (1935) also verschafft sich eine langjährige Entwicklung die ihr gebührende Öffentlichkeit, und wenn die formalen Logiker in ihren Streitschriften dies bis in die 60er Jahre hinein mit keiner Silbe erwähnen, dann scheint eine tiefe Bedrohung in der epochalen Arbeit des polnischen Logikers angelegt zu sein, mit der dieser die Semantik fest dem logischen Archiv inventarisiert. Und in der Tat vollzieht sich hier jener der Logistik angeblich verborgene Schritt zur inhaltlichen Relevanz, wenn nunmehr das Verhältnis von Designator und Designatum in metasprachlicher Relation distinguierbar wird. Bedeutung bei Frege, Sinn bei Husserl - gleichgültig welcher Terminologie man folgt, in jedem Fall ist das wesentliche Defizit der bis dahin rein ableitungstechnischen Kalküle überwunden, wenn die Logistik nun den verloren geglaubten Boden zurückerobert - dies mit Hilfe der vermeintlich sinnleeren Symbolik.
Wie weit aber, um an die eingangs gestellte Frage zu erinnern, wie weit nun leistet die grundsätzliche Möglichkeit der Semantik, "daß wir für eine beliebige vorgegebene Sprache S imstande sind, in der zu S gehörigen Metasprache M die semantischen Begriffe für S einzuführen", [24] den dringlichen Kompensationsakt, mit dem die Logik den Partikularismus ihrer maximalen Formalisierungsmöglichkeit mit dem prätendierten Universalismus zur Deckung bringen könnte? Anders: Orientiert die semantische Kapazitätserweiterung der Logistik sich final an dem Maximalziel, ihren kalkültechnischen Beschreibungsrahmen für das beschreibende Subjekt zu öffnen, oder läßt sich die Einbeziehung der Designator-Designatum-Relation eher als kausal determinierte Reaktion verstehen, mit deren Hilfe formale Insuffizienzen und technische Defizite aufgefangen werden sollen? Wir brauchen nicht in Spekulationen abzugleiten, das "Ereignis Gödel" markiert eine unabweisbare Zäsur, die die grundlagentheoretischen Ansätze des Russellschen Logizismus, den Formalismus Hilberts nicht weniger in die Schranken weist, als das Welt-Formalisierungs-Projekt Carnaps. Formal-logische Sachzwänge also drängen sich als motivationale Auslöser gewiß in gleichem Maße auf, wie die visionäre Teleonomie, dem ureigensten Anspruch der Logik, i.e. die Form des Denkens schlechthin abzubilden, ein Stück weit näher zu kommen.
Wie dem auch sei, im Ergebnis zumindest vollzieht die Semantik einen bedeutenden Schritt in Richtung einer auch inhaltlich reicheren Logik, und mit dem Ziel, Sinn und Bedeutung kalkültechnisch darzustellen, könnte ihr sogar der Transfer in die Linguistik offenstehen, um den Fregeschen Traum der Formelsprache des reinen Denkens zu erfüllen, die das Kontingenz-Regime des Wortes über den menschlichen Geist beendet. Doch ebenso, wie jede Grammatik die allgemeinen Regeln einer Sprache in expliziter Unabhängigkeit ihrer Sprecher kodifiziert, bleibt auch in der Bedeutungstheorie das Logik treibende Subjekt außen vor, und die wahrheitswerttheoretische Semantik verfestigt mit ihrer durch und durch positivistischen Präsupposition erneut jenes folgenschwere Vergessen, in dem die Logik den Grad ihrer formalen Objektivität genau in dem Maße gewinnt, wie das Subjekt sich ihm thematisch, als Inhalt entzieht. Weil der Inhalt für das Objekt reserviert ist, und zwar für ein supplementäres Objekt, dessen Einsetzbarkeit die sättigungsbedürftige Funktion in keiner Weise affiziert, weil also vor der logischen Form alle Dinge gleich sind, darf der Logiker selbst auf keinen Fall als (dann notwendig egalisierter) Inhalt seiner Form erscheinen. Nichts würde ihn mehr unterscheiden von den Dingen, eine Differenz, derer er aber vital bedarf, um die Hoheit am logischen Prozeß nicht einzubüßen.
Der Kompensationsversuch von außen: Neue Form und Onto-Logik.
Auf einem Umweg also führt das Ausblenden der formal-ontologischen Was-Frage, mit Hilfe dessen sich das Subjekt aus der rezeptiven Passivität vor der Welt in die Kantische Produktivität des Wie-für-mich rettet, zu der Unmöglichkeit, daß das Ich seiner selbst je positiv ansichtig wird, daß es - ohne sich in die Objektivität zu homogenisieren - sich je als Gegenstand der eigenen Selbst-Logifizierung zugrunde legt. [25] Folgenschwer bricht in die Logik das Paradox des Logozentrismus ein, dessen Selbstgewißheit und -sicherheit sich gerade auf einer Leerstelle errichtet, insofern das reibungslose Funktionieren seiner Rationalitätsform von einem präexistent und nicht hintergehbar angelegten Subjekt abhängt, das aber - um nicht in den Paralogismen der reinen Vernunft, resp. dem transzendentalen Schein zu straucheln - zugleich immaterielles, a-hyletisches, mithin transzendentales Subjekt zu sein hat. Wenn hier die ungesättigte Funktion, das prädikable Wie des Seienden in Abhängigkeit vom Ich steht, wenn der Begriff immer schon subjektive Leistung ist, dann bliebe dem Ich, um zum Begriff seiner selbst zu kommen, nur die Möglichkeit, sich als Leistung der Leistung zu erfassen, als Begriff des Begriffs, als absoluter Begriff. Solches aber kollidiert mit der Form-Inhalt-Dichotomie, die sich als absolute Grenze definiert, und solches läßt diejenigen, die es dennoch versuchen, zu Outsidern des logischen Alltagsgeschäftes werden. Hegel wäre hier zu nennen, dessen Logik sich unter Logikern kaum aus dem Ruche begrifflicher Sophistikation befreien kann, wenn im spekulativen Satz das denkende und sprechende Subjekt den Prozeß seines eigenen Denkens und Sprechens als Prozeß, Produkt und Objekt simultan vollzieht und beobachtet, wenn mehr noch im absoluten Begriff die Reflexion selbst zu sich kommt, an die das reflektierende Subjekt seinen Alleinvertretungsanspruch je schon abgetreten hat. Und wenn Gotthard Günther seine Wurzeln eher in Hegel als in Kant schlägt, dann erklärt dies nicht nur die ungebrochene Notwendigkeit zur situierenden Vermittlung, der sich auch dieser Text verdankt, dann indiziert dies vielmehr die grundlegend divergierende Zielsetzung, unter der Günther von allem Anfang sein Nachdenken der Form des Denkens widmet: Es ist jener, der Hegel- und Logik-Orthodoxie gleichermaßen suspekte Optimismus, der hinter dem metaphysisch-spekulativ verbrämten Logik-Konvolut Hegels die subtile Analyse sowohl der Bedingungen als auch der Mechanik erblicken möchte, denen die Einschreibung für Subjektivität allererst zu folgen hat, es ist die Hoffnung, mit dieser strukturtheoretischen Inversion fernab von Anthropozentrik und Logozentrismus, der Möglichkeit zur Selbstobjektivation unter der doppelten Bedingung der Preisgabe des hypostasierten Subjekts einerseits und einer qualitativen Komplexion des Form-Begriffes andererseits zur formalen und formalisierbaren Realität zu verhelfen. Gerade dies sind die Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens, die Günther aus der Logik Hegels elizitiert, um sie als Grundsatzprogramm seinem eigenen Werk zu installieren: Das Denken, das als wahrhaft universales nicht umhin kann, auch sich selbst zu begegnen, stößt unter den Maßgaben des linearen, dualistischen Logozentrismus im Moment der Rückkoppelung in die materiale Leere seines blinden Fleckes und offenbart diese Insuffizienz als den Mangel der Form; ebensowenig wie das Subjekt sich selbst befassen kann, ohne sich in sein metaphysisches Pendant, das Objekt, zu verwandeln, gelingt dies der homolog konzipierten Form, solange sie im absoluten Gegensatz zum Inhalt als homogen und unteilbar erscheint. Hier entschlüsselt sich die Aufgabenstellung, die das Subjekt als Subjekt zu sich bringen will, koinzident mit der Arbeit an der Form; die Hierarchien müssen dekonstruiert werden, es gilt die Einheit und Einzigkeit von Form und Subjekt zugleich und wechselweise zu disseminieren, und Günthers Rekurs auf Hegel geht das Wagnis ein, mit der Entgrenzung der Objekt-Logik in eins die sie fundierende und von ihr abhängige Metaphysik zu transformieren. Denn Günther ist nicht nur bereit, die Husserlsche Gleichung von Logik und formaler Ontologie zu unterschreiben, vielmehr radikalisiert er sie in einer Weise, die Husserl selbst zu gehen nicht mehr gewillt ist. Erst der Husserl-Schüler Heidegger wird mit Günther darin übereinkommen, daß eine intrinsische Reparatur hier nur Symptombehandlung sein kann, daß vielmehr das alte System insgesamt im Zuge einer konstruktiven Fundamentalkritik zu unterlaufen/überhöhen ist. Rejektion, der dem Modell des dialektalen Dreischritt entwachsene Qualitätsgewinn auf einer komplexeren Ebene, ist hier maßgebender terminus technicus, denn der Abnabelungsprozeß erfolgt mit zweifacher Stoßrichtung: "Eine bestimmte Logik indiziert eine bestimmte Bewußtseinslage. Will man von jener Bewußtseinslage fort, so muß man zuerst die Werkzeuge wegwerfen, deren sich das Denken auf der zu verwerfenden Stufe bedient." [26] Und umgekehrt: "Um einen neuen echten Formalismus an die Stelle des alten zu setzen, muß man vorerst ein neues ontologisches Weltbild besitzen" [27]
So spielt Günther mit hohem Risiko, denn mit Hegel Ernst zu machen, heißt Ernst zu machen mit der Forderung nach einer neuen Form, nach einem qualitativ vollständig neuen Formbegriff, der sich der alten Dichotomie zur Gänze entzieht, und der Glaube an die Transfermöglichkeit Hegelscher Geistphilosophie in die Nüchternheit des Kalküls setzt ein nicht unbeträchtliches Vertrauen in die eigenen Stifterqualitäten voraus, kann dies doch nur in der simultanen Transformation von Logik und Ontologie, von Theorie der Form und Metaphysik gelingen. Die Charakteristik des Güntherschen Denkweges also ist durchaus von einem mosaischen Aufbruch-Habitus getragen, denn obgleich sein Exodus in den Grundzügen das unbetretene Land der neuen Form als notwendiges Postulat bereits vor Augen hat, ist der anfängliche Gang ein ungewisser, der um das totaliter aliter dessen weiß, was ihm der leitende Fluchtpunkt ist. [28]
Nicht ohne systematische Relevanz dabei ist der Zeitpunkt dieses Aufbruchs, liegt er, in historischen Maßstäben gemessen, nur einen Bruchteil vor dem Neuansatz Tarskis; er vollzieht sich leise und abseits vom Fackelzugtaumel des Jahres 1933, dessen verblendeter Feuereifer zuerst den polnischen, später auch den deutschen Logiker zu einem Exodus ganz anderer Art in die transatlantische Dependance des Pragmatismus führt. Doch bliebe Biographisches dieser Art nur schilderndes Beiwerk, wenn nicht die Spezifik der beiden Logik-Konzepte dieser Transposition auf amerikanischen Boden ihre zunehmende Kontur verdankte, eine Tiefenschärfe, die das je schon vorgezeichnete Auseinanderdriften in deutlichere Distanz überführt.
Denn daß Günther eine in Syntax, Semantik und Pragmatik sich ausdifferenzierende Logik insgesamt als Klassische verhandeln kann, [29] der gegenüber er seinen Ansatz - und dies nunmehr vor dem verifikationistisch geübten Auge des Pragmatismus - als transklassisch deklariert, ist ohne den Kontakt mit der amerikanischen Kampfansage an den Behaviorismus, i.e. die Kybernetik, kaum vorstellbar, wie umgekehrt die Kybernetik in dem Kontinental-Philosophen Günther ihren profundesten Rechtsbeistand findet, so es darum geht, sie aus dem Ghetto bloßer Ingenieur-Fertigkeit in den transzendental-philosophischen Vorhof einer materialistischen Theorie des Geistes zu leiten. Diese der Katheder-Philosophie schwer nachvollziehbare Rückkoppelung ist für das an den mehrfach geschlossenen Kreisen Hegelscher Systemik geschulte Denken Günthers nicht nur augenscheinlich, vielmehr fä