"Die Soziologie steckt in einer Theoriekrise." Lakonisch beginnt, was sich längst als einer der großen Entwürfe in die Geschichte der Theorieentwicklung eingetragen hat. Die Rede ist von Luhmanns Versuch, Theorie der Gesellschaft als eine universale Theorie aus dem Paradigma der Systemtheorie heraus zu instituieren. [Luhmann: 1984] Erinnert sei damit an die innerdisziplinäre Situation der Soziologie, der Luhmann sich adressiert: Der Begründungsnotstand des eigenen (dispersen) Gegenstandes auf Seiten der Empirie und die zur bloßen Hermeneutik und Exegese ihrer eigenen Klassiker versandete Theorie als Ausdruck des grundlegenden Mangels einer facheinheitlichen Theorie.
Wir schicken diese Retrospektive voraus, weil eine einfache Substitution genügt - streiche "Soziologie", setze "Medientheorie" -, um den Seitenblick in die paßgenaue Bestandsaufnahme unserer eigenen Disziplin zu verwandeln. Denn analog fällt es angesichts der Vielzahl medienzentrierter Diskurse schwer, eine Einheit in Gegenstand und Methode zu erkennen, von einer facheinheitlichen Theorie ganz zu schweigen. Mehr noch: Bereits der Singularis "Theorie" scheint obsolet; wer Ein- und Überblikke in medienwissenschaftliche Thematisierungen sucht, begegnet im Vorhinein je schon pluralen Medientheorien. [vgl. Faulstich: 1991] Und dort, wo das Bedürfnis nach Synthese und Fundierung sich ausdrückt, wo etwa eine Medienkulturwissenschaft als synthetisierende Überbaudisziplin für Geistes- und Sozialwissenschaft eingefordert wird, da ernüchtert sich dieser Anspruch sogleich an einer Realität, nach der "das größte Handikap dieser sich konstituierenden Wissenschaft [...] bis heute ein Theoriedefizit zu sein [scheint]." [Schmidt: 1992, 447]
Ein Defizit, dessen intensionaler Leere reziprok eine extensionale Vermassung höchst heterogener Ansätze korrespondiert: (kybernetische) Informationstheorie (Shannon/Weaver, Steinbuch), Kommunikationssoziologie (Maletzke, Silbermann, Merten, McQuail), kritische Massenkommunikationsforschung (Benjamin, Adorno/Horkheimer, Prokop, Negt/Kluge), systemtheoretisch-interaktionistische (Parsons), systemtheoretisch-kommunikationale (Luhmann), systemtheoretisch-konstruktivistische (S.J. Schmidt) Medientheorien, Theorie distinkter Medien(gattungen) (Schrift, Film, Poster, Radio, etc.), Mediengeschichte (Kittler, Bolz), Abbildung von Medien(theorie) auf Psychoanalyse (Zizek), Mediensozialgeschichte (Ong, Goody) Medienkulturgeschichte (Flusser, Baudrillard), Medienkulturanthropologie (McLuhan, Weibel) u.v.m.
Offensichtlich klaffen hier Lücken. Offensichtlich divergieren die genannten Ansätze inhaltlich, formal und methodisches so sehr, daß kaum ersichtlich ist, wie aus den verschiedenen Medientheorien überhaupt so etwas wie eine einheitliche Theorie der Medien kristallisationsfähig werden könnte. Wir können uns also erneut mit "Luhmann ´84" parallelisieren: Auch, oder besser gerade angesichts der sich ausdifferenzierenden Medienwissenschaften und -theorien existiert bis heute keine allgemeine Medientheorie.
Und dennoch läßt sich durch alle Divergenzen hindurch ein gemeinsamer Hintergrund erkennen, vor dem sich die jeweiligen Ansätze als je unterschiedliche Formen abheben. Explizit oder implizit versammeln sich sämtliche Theorien auf dem Boden eines gemeinsamen anthropologischen Aprioris: Die Bestimmung des Menschen als Mängelwesen, das überlebensnotwendig gezwungen ist, "die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umzuarbeiten." [Gehlen: 1940, 36] Medien und Technik erscheinen so als Körpererweiterungen eines zur prothetischen Verlängerung seiner selbst, zur Kompensation seiner "Primitivismen" (Gehlen) gezwungenen Wesens; "Organentlastung" und "Organüberbietung" generieren den Menschen als "Prothesengott" (Sombart), dessen Ausdehnungsmedien folgerichtig quantitativ thematisiert werden: "Höher, schneller, weiter" signifizieren das Mehr der Selbstüberbietung von der platonischen Rede über Schrift (der Abwesende spricht raum- und zeittranszendent) bis hin zur Metaphorisierung des Netzes als Datenautobahn (Infohighway des Al Gore; Netzmetaphern vgl. Bühl: 1996, 13ff.)
So unterstellt sich der Mediendiskurs dem der instrumentellen Vernunft, dessen leistungstechnisches Paradigma in der Zweck-Mittel-Relation ruht. Gewonnen ist damit die maximale semantische Reichweite des Medienbegriffs, der sich auf die Totalität dessen ausdehnt, was als "zweite Natur" angesprochen werden kann: Brille, Radio, Computer - das Artefakt konstituiert die "ins Lebensdienliche umgearbeitete Natur" als selbsttätig produzierte und allein mögliche Umwelt des Menschen, denn nur "die Kulturwelt ist die menschliche Welt." [Gehlen: 1940, 38]
Doch fordert diese Thematisierung des Mediums ihren Preis. Als Bedingung und Garant der Lebenswelt ist dem so perspektivierten Medium unmittelbar seine Umkehrung, die Negation der Zweck-Mittel-Relation eingeschrieben, aus der es als Bedrohung und Gefährdung hervorgeht. Generell: Die instrumentelle Sicht auf Medien und Technik engt den Raum, sich zu Medien und Technik zu verhalten, auf die einfache Alternative von Affirmation und Ablehnung ein. Notgedrungen wächst die Dualität von Technikeuphorie und Kulturpessimismus als habitueller Reaktionsmodus auf dem Boden des instrumentalen Paradigmas, das seine Leitdifferenz in der digitalen Opposition von "nützlich", "gefährlich", letztlich also von "gut" und "böse" findet. Gute Medien - böse Medien; tertium non datur - das Nachdenken über Technik stoppt als Technikfolgeabschätzung, Medientheorie zerfasert in Medienwirkungsforschung.
Allerdings ist das instrumentelle Paradigma selbst nur Ausdruck einer tieferliegenden metaphysischen Positionierung, nämlich der egologischen Entscheidung, die Welt als das radikal geschiedene Reich der Objektivität vom Subjekt aus zu denken. Nur da, wo das Ich die Welt als sein Gegenüber erfaßt (gleichgültig ob positivistisch erfahren oder rationationalistisch konstruiert), kann die Frage aufkommen, ob dieses Gegenüber als Mit- oder Gegenspieler zu denken ist, ob die Welt als kaltes Universum oder nährende Natur erfahren wird; nur wenn das Außen das ganz Andere meiner selbst ist, wird die Frage nach gut oder böse des ganz Anderen sinnvoll.
In bezug auf Medien und Technik also zeigt sich die Koinzidenz von Egologie und instrumenteller Vernunft zum einen als die Reduktion des Sichtfeldes auf die Dualität von Euphorie und Entsetzen. Und zum anderen dechiffriert sie sich als die mediale resp. technogene Reformulierung des metaphysischen Spaltes zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit: Der Mensch, verstanden als mediales Wesen, ist traditionell geprägt durch die Rede, das Wort, den Logos, wobei die Rede verstanden wird als Ausdruck einer Innerlichkeit, als Verlautung der Gedanken, denen alles Äußerliche/Materielle/Mediale sekundär ist. Damit schließt das Subjekt sich aus seinem Medium, letztlich aus seiner Welt aus. Allerdings erlangt es durch diesen Ausschluß in inverser Gegenbewegung (potentiell) die Herrschaft über das Äußerliche: Das Subjekt beherrscht, manipuliert, bedient Technik und Medium. Kehren sich hier die Machtverhältnisse um, so erfährt das Selbst sich als Spielball exteriorer Mächte; Medien und Techniken manipulieren und beherrschen das Subjekt als fremde, disjunkte Größen - Euphorie und Entsetzen, Ernst Jünger und Charly Chaplin.
Medien- und Techniktheorie ist also immer schon verzahnt mit einem metaphysischen Apriori als dessen Aposteriori sie erscheint. Und folglich wird der Ausbruch aus der rigiden Klammer - gut-böse, Kosten-Nutzen, ja-nein - nicht anders können, als eine Umstellung im metaphysischen Dispositiv vorzunehmen. Daher auch titeln wir diese Seiten "Medientheorie als Theoriemedium": Die Neusituierung des Mediendiskurses wird sich als Verschiebung in Richtung auf Ontologie, Logik, Semiologie, Metaphysik abspielen; so besetzt sie die herausragende Position als Medientheorie zum Katalysator einer Theorie dessen zu promovieren, was sich aus dem Jenseits klassischer Ontologie, Logik, Semiologie, Metaphysik anschickt, die damit verfaßte (klassische) Rationalität neu zu vermessen. Allgemeine Theorie der Medien kann sich nur im Zuge eines wechselseitigen Transformationsprozesses entfalten, der simultan die allgemeinen Denk- und Theoriemuster als Bedingung und Folge einer fundamentalen Medientheorie reformuliert. Medientheorie, die offen oder latent stets mit Wahrnehmungstheorie assoziiert ist, entfaltet sich als universale Theorie im Sinne des klassischen Begriffs der theoria als Anschauung zur Weltanschauung.
Daß der Weg über Medien und Technik sich nicht als Umweg, sondern als Königsweg gestaltet, zeigt sich, wenn die metaphysische Dichotomie (Innerlichkeit/Äußerlichkeit, Subjekt/Objekt) im Technischen immer schon brüchig ist. Die unüberbrückbare Trennung der Sphären verflüssigt sich im Medium als dem überdeterminierten Produkt, das zum Spiegel seines Produzenten gerät. Am Beginn der 60er Jahre formuliert das Freundespaar Günther/Schelsky: "Gott mag auch noch heute für den Erdenstaub, aus dem wir und die Dinge gemacht sind, verantwortlich sein, aber die Schöpfung jener `zweiten Realität', die uns als objektiver Zivilisations- und Geschichtszusammenhang reell zumindest so stark beeinflußt wie der erste natürliche Seinsbestand, können wir ihm unmöglich zuschreiben. Für sie sind wir allein verantwortlich. Hier hat eine Verdopplung, also Wiederholung der Realität stattgefunden." [Günther: 1960, 19f] Und Schelsky ergänzt: "Diese technische Welt ist in ihrem Wesen Konstruktion, und zwar die des Menschen selbst. Man denkt in rückwärts gewandten Bildern, wenn man von ihr als `künstlicher Natur' spricht, sie ist in viel exakterem Sinn der `künstliche Mensch', die Form in der der menschliche Geist sich als Weltgegenständlichkeit verkörpert und schafft. [...] in der technischen Zivilisation tritt der Mensch sich selbst als wissenschaftliche Erfindung und technische Arbeit gegenüber." [Schelsky: 1961, 446]
Ganz offenbar besetzt das Artifizielle eine Schnittstelle, es gibt sich als Medium in seiner ursprünglichen Bedeutung zu erkennen: Medium heißt Mitte, und in der Mitte von schaffendem Subjekt und ungeschaffenem Objekt etabliert es sich als Interface, besser: Interspace ontologischer Polaritäten. Weil aber dieser Zwischenraum sich nicht entscheiden will, exklusiv nur einer (welcher?) Seite zuzugehören, und weil das klassische, dual und digital konditionierte Denken mit solchen unentscheidbaren Widersetzungen seine Probleme hat, gleitet der klassische Menschentypus am Medium in seine zentrale Krise: Noch immer identifiziert er sich mit einer Geistigkeit, die sich längst von der Subjektivität abgespalten hat und zum Mechanismus geworden ist. Entsprechendes gilt für die `Eigenschaft' der Lebendigkeit, der Vigilanz und Spontaneität und Autoplastizität. Auch diese Charakteristika des Menschlichen und Lebendigen lassen sich partiell artifiziell konstruieren und geraten ihm somit zur Äußerlichkeit. Die autochtonen Grenzen von Innen und Außen lassen sich nicht mehr halten, sie vervielfältigen sich am Medium, dessen De-finition, dessen Abgrenzung sich in eins zur Neubestimmung von Innen und Außen verwandelt. Hier Simulationsmedien als Bejahung des Nichtseienden, Dissimulation als Verneinung des Seienden zu veranschlagen [Kittler: 1989, 64], oder Medien als Nahtstellen zu testieren, an denen Abwesenheit in Anwesenheit umschlägt und umgekehrt (z.B. per Telephon) [Weibel: 1989, 104] - all das mögen elegante Choreographien im Repertoire autochtoner Philosophie sein; doch entlarven sie sich als bloße Arabeske, wenn sie sich als zutiefste Anerkenntnis des klassischen Dualismus und Digitalismus zu erkennen geben, aus dem Umkehrbewegungen und Begriffsumstellungen den Ausbruch höchsten proben.
In welche Richtung eine tiefergehende Grenzverschiebungen laufen müßte, deutet sich an, wenn eine kaum als solche rezipierte Medientheorie als erste Grenzsteinversetzung gelesen wird: Heideggers Medientheorie, der er den Namen der Zeuganalyse gibt, gründet in der radikalen Absage an jede Bewußtseinstheorie und Egologie, wenn sie das Subjekt als ein Seiendes(Dasein) begreift, dem es wesentlich um sein Sein geht. So besitzt das Dasein immer schon einen ausgezeichneten Bezug zum Sein, es kennt sich aus, ist in der Welt, und sichert sich sein Überleben in der umtriebigen Sorge um sein Sein im Gebrauch der Dinge. Werkzeuge, Artefakte, Medien also, die Heidegger unter dem Namen Zeug versammelt, werden im gebrauchenden Umgang in ihrer Zuhandenheit erfahrbar (sie sind als verwendbare Medien zur Hand), verfügen aber jenseits dieser instrumentellen Bestimmung noch über eine spezifische Verweisungsfähigkeit, insofern sich an ihnen das Gesamt der anschlußfähigen Kontexte zeigt (Hammer, Hämmern, Befestigen, Bauen, Wohnen, Dasein). Diese Verweisungsstruktur des Zuhandenen (Mediums) tauft Heidegger Bewandtnis (der Hammer hat sein Bewenden beim Hämmern ...), um von hier aus das Dasein, den Menschen, als finalen Grund zu installieren, auf den die Medien verweisend hin orientiert sind. "Die Bewandtnisganzheit selbst aber geht letztlich auf ein Wozu zurück, bei dem es keine Bewandtnis mehr hat [...] Dieses primäre Wozu ist kein Ding als mögliches Wobei einer Bewandtnis. Das primäre `Wozu' ist ein Worum-willen. Das `Umwillen' betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht." [Heidegger: 1927, 84]
Medien (Zuhandenes) werden also als Instrumente der Kontingenzbewältigung zu Zeichen, zu Signifikanten, als deren Signifikat das Dasein, der Mensch, erscheint, oder anders: Eine Hermeneutik des Daseins, ein verstehendes Bild des Menschen, wird nicht anders können, als zuvor die Zeichen, Signifikanten, Medien seiner selbst lesen zu müssen; das menschliche Antlitz zeigt sich mosaikartig dispersiert über die Totalität seiner Medien.
Umgekehrt aber zeichnet Heidegger das Dasein zugleich als "Bedingung der Möglichkeit der Entdeckbarkeit von Seiendem, das in der Seinsart der Bewandtnis (Zuhandenheit) in der Welt begegnet und sich so in seinem An-sich bekunden kann." [Heidegger: 1927, 87] Signifikant und Signifikat, Medium und Medienoperator konstituieren sich so in einem gleichursprünglichen Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Mehr noch: Die duale Ko-Kreativität von Dasein und Bewandtnisganzem erfährt ihre Erweiterung in Richtung auf eine Dreipoligkeit, in der sich die Heideggersche Medientheorie schließt. "Worin das Dasein sich vorgängig versteht im Modus des Sichverweisens, das ist das Woraufhin des vorgängigen Begegnenlassens von Seiendem. Das Worin des sich verweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt." [Heidegger: 1927, 86]
Welt, Dasein, Zuhandenes gehen rekursive Schleifen ein, die keinen ursprungstheoretischen Index mehr führen, wo der Einstieg auf den Zirkel stattzufinden hat - trichotome Gleichursprünglichkeit als Desedimentierung des Grundes und als strukturelles Grundmuster, das die Symmetrie von Innerlichkeit/Äußerlichkeit aufbricht, der damit überhaupt die Bemessungsgrundlage entzogen ist. Deswegen haben wir Heidegger angeführt: Mustergültig führt er vor, daß die Rede vom Medium als "Inter", als "Mitte" und "Zwischen" immer schon in der metaphysischen Falle sitzt, die das klassische Denken mit seinem Grundbinarismus auslegt; wer Medien als Zwischenreiche instituiert, ratifiziert notgedrungen eine Egologie und dualistische Ontologie, die sich am Ende zu entscheiden hat, ob sie das Medium auf Seiten der Innerlichkeit oder Äußerlichkeit ansiedelt. Werden aber Dasein, Welt und Zuhandenes, also Subjekt, Objekt und Medium in simultaner Genese gedacht, dann steht ein solches Denken im Rahmen der klassisch sanktionierten Logifizierbarkeit zwar vor der medialen Grenze seiner Sagbarkeit, hat aber andererseits bereits einen unbestimmten Vorbegriff des notwendigen logisch-ontologischen Leistungsprofils jenseits dieser Grenze.
Die Grenze mit einem bloßen Sowohl-als-Auch bereits für überschritten zu glauben, ist allerdings ein Irrtum. Schnittmengenpolitik basiert auf einem linear darstellbaren Vereinigungsprozeß, der dem Überlappungsbereich zudem seine Identität raubt. Sowohl das Weder-Noch, als auch das Sowohl-als-Auch konzediert die Präexistenz dessen, was sie zu unterminieren suchen (Innen/Außen). Zugleich aber ist es "sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache [...], die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte." [Derrida: 1966, 425] Das Medium, das sich weigert als Zwischen zu siedeln, das sich umgekehrt anschickt, das Dispositiv des Zwischen, also die Dualität von Innen und Außen zu sprengen, hat keine Sprache, keinen Ort, da die Koordinaten der Orthaftigkeit insgesamt erst einer Verschiebung unterzogen werden müssen.
Insofern ist die implizite Transformation des gesamten Begriffschemas in allen seinen Teilen immer schon mitzulesen, wenn das neu zu Denkende sich der alten Schläuche bedient. Auch die mediengestützte Dekonstruktion muß sich der überkommenen Sprache befleißigen, um ihre Verheißung zu kolportieren, daß sich "in unserer Zukunft [...] der phantastische Ausblick auf eine geschichtliche Epoche [eröffnet], in der die klassische zweiwertige Aufspaltung der Wirklichkeit in tote Sache und lebendige Personalität verschwunden ist, weil zwischen diesen beiden ontologischen Grenzfällen sich eine mittlere Dimension des Seins ausbreitet, in der die anima abscondita des transklassischen Menschen als ihre eingenste Schöpfung und technische Produktion das Bild der klassischen Seele als selbsttätige Bewußtseinsanalogie setzt." [Günther, 1960, 36]
Grundsätzlich also genügt es nicht, Medien als territoriale Extensionen mit einseitiger Ausdehnungsrichtung zu erfassen, sei es der res extensa (klassische Maschine), sei der res cogitans (Computer) [Vgl. Weibel: 1989] Das Credo "alle Technologie ist Teletechnologie" [Weibel: 1989, 90] beglaubigt einseitig die unilineare Expansion des Subjekts in die Welt. Selbstverständlich, das körperliche Territorium dehnt sich aus in die Welt, doch bedeutet diese Extension zugleich auch die vermehrte Ankunft der Welt im Körper: Je imperialer die mediale Welthaftigkeit des Körpers sich gebärdet, um so dramatischer steigert sich die ihm investierte Welthaftigkeit. Medien als Ausdehnungen des Körpers in die Welt, verlängern zugleich die Welt in den Körper hinein: Der Pilot ist die Maschine; Verschmelzungsmetaphern deuten dies ebenso sinnfällig an, wie der Rücklauf medialer Entwicklungen in anthropologische Konzeptualisierungen (Uhr - Descartes/La Mettrie, "Wärmemaschine" - Freud; von Neumann-Maschine - Simon, Netzwerk - Minsky).
Die Frage also ist die nach einer Medientheorie, die die Mehrlinigkeit und Gleichursprünglichkeit der Triade von Innen, Außen und Medium einfangen könnte, ohne ihnen ihre distinkte Identität zu rauben, und die es zugleich ermöglichte, sich von keinem der Orte aus als bevorzugtem Ausgang zu formulieren. Worum es geht, ist nichts weniger als die Beschreibung der neuen Grenzen im Prozeß und als Prozeß ihrer Neuziehung.
Wie sehr dieser (metaphysische) Neuziehungsprozeß mit Medientheorie verknüpft ist, zeigt sich, wenn die Dekonstruktion des cartesianischen Dualismus bei Merleau-Ponty direkt in Medientheorie mündet: Der Ausbruch aus dem Dualismus vollzieht sich als Instituierung des Leibes als dem (Wahrnehmungs)Medium schlechthin, wenn Merleau-Ponty in Analogie zu Heidegger Wahrnehmung nicht mehr von der Alternative der Setzung oder Abbildung her denkt, sondern darin eine primordiale Zugangsform zur Welt erkennt - Wahrnehmend sind wir zur Welt, die dementsprechend keine präexistente Welt mehr ist, sondern medialer Effekt des wahrnehmenden Leib-Subjekts. Welt ist "untrennbar vom Subjekt, von einem Subjekt jedoch, das selbst nichts anderes ist als Entwurf der Welt, doch von einer Welt, die es selbst entwirft." [Merleau-Ponty: 1945, 489] Welt wird immer nur in statu nascendi wahrgenommen; als Entfaltung der Wahrnehmung entsteht Welt in der Bewegung der Wahrnehmung - the paths are made by walking.
Die Frage nach dem Medium, das das Subjekt einerseits immer schon in die Welt stellt und ihm andererseits diese Welt erst erschließt, der Ort der Wahrnehmung, der nicht von den Strukturen des Subjektiven und Objektiven durchzogen ist und nicht von ihnen her gedacht werden muß, das Medium also, in dem die Welt als Wahrgenommene entsteht, und das gleichzeitig und nur in diesem Entstehen die Existenz des Mediums selbst verwirklicht, findet Merleau-Ponty also im Leib. Der Leib springt aus dem Raster des Subjektiven und Objektiven heraus. Der Leib als Verankerung in der Welt, als ein natürliches Ich, ist gerade nicht der objektivierbare Körper, der als Gegenstand der positiven Wissenschaften bloßes Objekt der Ding-Erfahrung ist. Und ebensowenig läßt sich das Bewußtsein des Leibes als ein Denken verstehen, in dem sich reflektierend die Vorstellung darüber gewinnen ließe, einen Leib zu haben. Die spezielle Leiberfahrung kann weder auf die objektivistische noch auf die subjektivistische Strategie zurückgreifen; "zur Kenntnis des menschlichen Leibes führt kein anderer Weg, als der, ihn zu er-leben, d. h. das Drama, das durch ihn hindurch sich abspielt, auf sich zu nehmen und in ihm selber aufzugehen. So bin ich selbst mein Leib [...] und umgekehrt ist mein Leib wie ein natürliches Subjekt, wie ein vorläufiger Entwurf meines Seins im ganzen. So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in der Wirklichkeit gibt." [Merleau-Ponty: 1945, 234]
Der Leib also hält im Gegensatz zum Körper keine Distanzierungschance mehr bereit. Er ist vorgegeben, und mit dieser Vorausgesetztheit leiblicher Existenz ist zugleich eine bestimmte Welt vorgegeben: Der Leib ist beteiligt an allen Vollzügen, die das Subjekt mit der Welt verbinden, er selbst ist die Verbindung, mit der das Selbst in der Welt ist. So ist er das unhintergehbare Medium, mit und in dem die Welt erschlossen wird. "Ich fasse die Welt [...], weil ich in der Welt situiert bin, sie mich umfaßt. [...] Das Subjekt ist in Situation, es ist selbst nichts anderes als eine Möglichkeit von Situationen, weil es seine Selbstheit nur verwirklicht als wirklich Leib seiendes und durch diesen Leib in die Welt eingehendes." [Merleau-Ponty: 1945, 464]
In Bezug auf die wahrgenommene Welt ist der Leib somit "das Werkzeug all meines Verstehens überhaupt" [Merleau-Ponty: 1945, 275], doch ist er nicht das virtuos einsetzbare Instrument, das in freier Verfügungsgewalt steht. Zwar läßt sich der Blick lenken, das Ohr ausrichten, das Tasten steuern, aber daß gesehen, gehört, gespürt wird, geht ursächlich nicht von einem freien Willenszentrum aus. Und was für die Empfindungen gilt, summiert sich als der im Grunde Ich-lose Impuls der Wahrnehmung derart, "daß man in mir wahrnimmt und nicht, daß ich wahrnehme." [Merleau-Ponty: 1945, 253] Wenn auf diese Weise Wahrnehmung weder das Bewußtsein eines Zustandes (Subjektivismus) noch der Zustand eines Bewußtseins (Objektivismus) ist, dann ist Wahrnehmung auch aus der Klammer von aktiv/passiv, autonom/abhängig gelöst. Wahrnehmung ist nicht das, was als äußerer Informationsstrom in einen bloß aufnehmenden Kübel gegossen würde; und ebensowenig ist es ein Sammeln solcher Informationen, zu dem man sich entschließen könnte oder nicht. Wahrnehmung springt aus dieser Alternative heraus, sie ist von ihr aus gar nicht zu denken, eher ist sie "ein Sein in Situation, dem zuvor wir gar nicht existieren, das wir beständing aufs neue beginnen und das uns selbst erst konstituiert."[Merleau-Ponty: 1945, 486]
Damit ist der Inbegriff der Wahrnehmung, der Leib, als das Medium der Welt und Verankerung in der Welt gleichermaßen davon entfernt, unter den Kategorien von aktiv/passiv, autonom/abhängig gedacht zu werden. Weder wendet der Leib sich der Welt in einer Form zu, daß er sich ihr entziehen könnte, noch gibt es die Welt als ihm äußerliche, der er sich zuwenden/entziehen könnte. Die Begegnung von Selbst und Welt gestaltet sich nicht als frei zu ergreifender Entschluß, sondern das Selbst in seiner leiblichen Existenz, fällt zusammen mit der Existenz der Welt. "Einen Leib haben, heißt über ein umfassendes Gefüge verfügen, das die Typik sämtlicher intersensorischer Entsprechungen über das wirklich wahrgenommene Weltstück hinaus umfaßt und ausmacht. Ein Ding ist also in der Wahrnehmung nicht wirklich gegeben, sondern von uns innerlich übernommen, rekonstruiert und erlebt, insofern es einer Welt zugehört, deren Grundstruktur wir in uns selber tragen." [Merleau-Ponty: 1945, 377] Und weil diese Strukturen immer schon inkorporiert sind, weil also die inneren Bezüge der Dinge und die Beziehungen der Dinge untereinander immer schon durch den Leib vermittelt sind, kann Merleau-Ponty letztdeutlich sagen: "Inneres und Äußeres sind untrennbar. Die Welt ist gänzlich innen, ich bin gänzlich außen." [Merleau-Ponty: 1945, 464]
Deutlich sichtbar, sowohl bei Heidegger wie auch bei Merleau-Ponty, ist der Forderungskatalog, den eine nicht mehr klassisch fundierte Medientheorie aufstellt: Wechselseitigkeit, Mehrlinigkeit, Gleichursprünglichkeit, Desedimentierung des Grundes, Dekomposition jedweder Dualität/Dichotomie lassen sich als herausragende Stichworte zusammentragen. Allerdings werfen sie nur ein Schlaglicht auf das Was der onto-logischen Revision, das konkrete Wie bleibt unbeleuchtet. Deswegen sprachen wir von einem Vorbegriff: Die genannten Verschiebungsansätze verbleiben insgesamt im Proklamatorischen, die Zusammenhänge und Interdependenzen von Innen/Medium/Außen werden angezeigt, ohne sie in ihrem Prozeßcharakter hinreichend zu artikulieren. Hier bedarf es einer weitergehenden, vertiefenden Konkretion; notwendig hat sich eine Strukturation anzuschließen, die als Denkform selbst das Medium bereitstellt, an dem und in dem sich der Strukturzusammenhang von Innen, Außen und Medien neu entfaltet.
Und diese Denkform steht bereit. Die Polykonturalitätstheorie Günthers [vgl. Günther: 1976, 1979, 1980] stellt den geforderten Maximalrahmen logisch-ontologischer, metaphysischer und formtheoretischer Transformation da, so daß eine allgemeine Medientheorie hier ihre Referenztheorie findet; allgemeine Medientheorie könnte gleichermaßen als polykontexturale Medientheorie firmieren. Denn gemeint ist immer der Duktus der Theoriegenese, der sich aufmacht, die Exterritorität des Beschreibungsortes zu verlassen: In dem Moment, in dem die Einmaligkeit der Grenze zwischen Innen und Außen in die Vielzahl der diskontexturalen Abbrüche (Grenzen) überführt wird, verschwindet nicht nur der Zwang zum Sowohl-als-Auch, sondern eröffnet sich erstmals die Möglichkeit, daß die Beschreibung als Prozeß im Produkt der Beschreibung selbst inhäriert: Der Weg, der beim Gehen erbracht wird (Heidegger), das Medium, das nicht präexistiert, das sich im Prozeß der Medialisierung generiert, um in eins damit den Operator, die mediale Operation und das Medium zu generieren, als simultane Konstitution von Prozeß, Produzent und Produkt, als Bewegung des medialen Wesens: Mensch.
Hierfür steht die Polykontexturalitätstheorie in Referenz- und Reichweite bereit. Einerseits als narrativer Spielraum des philosophischen Diskurses, in den sie sich als radikale Dekonstruktionsbewegung in Richtung auf eine Transmetaphysik einträgt. Und andererseits als formallogisches Pendant der Narration, sofern sie als Stellenwert- und Kontextwertlogik den Raum der klassischen Formalisierung kollateral erweitert. Damit wäre das Instrumentarium in Anschlag, das den (bloßen) Narrationen der Grenzüberschreitung klassischer Metaphysik gerade nicht zur Hand ist.
Wenn sich also zeigt, daß hinter der Frage nach dem Medium stets die nach Immanenz und Transzendenz, nach Innerlichkeit und Äußerlichkeit, nach Geist und Material lauert, dann besteht die eine Strategie gewiß in dem denkonstruktiven Gestus, der die binären Oppositionen insgesamt verschiebt und ihr Zusammenspiel polykontextural neu situiert. Eingedenk des negativen Bescheids, den Derrida solchen Verschiebungsoperationen erteilt, hätte dieser Versuch also eine Denk-, Vorstellungs-, Sprach- und Signifizierungsform zu finden, die gänzlich jenseits der metaphysischen Erblasten ihr eigenes Apriori generiert. Es wäre der Eintritt in einen reinen Strukturraum, wenn Struktur gerade bedeutet, von keiner ablösbaren Positivität mehr affiziert zu sein. Strukturen unterlaufen den ihnen aufsitzenden Binarismus von Stoff und Form, sofern sie als Zusammenspiel von Differenzen erst das Medium dieser Opposition bilden. Anders gewendet verweist die polykontexturale Neusituierung am Ende auf einen neuen Formbegriff, der in der Lage ist, ohne von Stofflichkeit und Substantialität durchzogen zu sein, Strukturen abbilden und generieren zu können.
Hier dann verschärft sich die allgemeine, resp. polykontexturale Medientheorie noch einmal und kommt eigentlich zu sich selbst, denn was damit eingefordert ist, zeigt sich als eine Theorie der Medialität selbst: Das Phänomen der Medialität, also einerseits die Bedingung der Möglichkeit als auch andererseits die Strukturationsbedingungen dafür, daß überhaupt Materiales, Sinnliches, zur Trägerfunktion von Sinn gelangen kann, wäre hier die zu bedenkende Frage. Wie kann Sprache als allgemeine Zeichenvirulenz, wie kann Zeichenvirulenz als Sprache (Sprache, Schrift, Kleidung, V-2) überhaupt ins Werk treten? Wenn Sprechen, Schreiben, Denken, Erfahren, Leben sich anhand von Medien konstituiert, wie konstituieren sich dann die Medien? Was ist das mediale Moment am Medium? Was heißt Medialität?
Gefordert wäre "Medialität zu begründen als die vor-semantische, die sinn-erzeugende Rolle des Sinnlichen." [Krämer, 1996, 181] "Gerade das aber ist das Problem, um das die Negativsrpache kreist. Gibt es etwas, das selber noch nicht Begriff oder Idee ist, was aber als Baustein dienen muß, wenn Sinn und Idee erschaffen werden soll" [Günther: 1979, 44]
Letztlich würde man sich begnügen können mit einer Narration, Transskription, Inskription und Logifikation dessen, was die in der Metaphysiksprache sich unwillkürlich wund laufende Erzählung Derridas von der différance, Spur, archiécriture umfaßt. Grammatologie (Derrida) und Zerolgie (Kristeva) als Erzählungen der Präsemiotik sind ihrerseits erst noch Hinweise, Aus-weise aus jenem positivsprachlichen Reich, das sie selbst nicht verlassen (können), von dessen formtheoretischem Ausbruch demgegenüber jedoch die Fundierung der Polykontexturalität abhängt. Dementsprechend findet sich bei Günther mit Morpho- und Kenogrammatik die formtheoretische Konzeption eines nonsignifikanten Signifikationssystems - die Formalisierung der différance entsteht kurz bevor sie zum Namen kommt (Günther 1962, Derrida 1968).
Mit Morpho- und Kenogrammatik, mit der Theorie der Negativsprachen also [vgl. Günther: 1979] ist ein formaler Einschreibemodus erbracht, an dem sich der Formierungs- und Strukurationsprozeß als Prozeß darstellen läßt - als Formation der Form, Strukturation der Struktur, als selbstreferentielle (Auto)Genese/-Poiese eines mit Differenzen agierenden Leerstellenkalküls. Selbstreferentielle Struktur und Form, einschreibbar im Nichts, das nicht nichts ist, bedeutet zugleich den weitesten Abstand, der sich überhaupt zu einer Egologie denken läßt. Hier, wo der Prozeß der Formation sich selbst in sich einträgt, ist somit der eigentliche Ort des Mediums betreten: Im kenos, in der Leere als dem strukturierten-strukturierenden Abwesen (Nichts), erschließt sich das Ganz-Andere in der ihm gemäßen Radikalität, die dem Sowohl-als-Auch, Weder-Noch, aktiv-passiv nicht einmal mehr einen Anhalt bietet. Hier ist der Ort des Heideggerschen Ereignisses, das frag- und saglos sich ereignet - das Geläut der Stille.
So weit wäre also zurückzugehen. So weit hätte der Blick sich ins Unbesehene und ihm notwendig Verborgene zu vorzuwagen, um die Medialität des Medium selbst in den propositionslosen Blick zu nehmen. Und kenntlich gemacht wäre damit, inwieweit die gegenwärtige Begriffe vom Medium dieses noch immer offen oder latent, realistisch oder konstruktivistisch, apriorisch oder aposteriorisch, wenn nicht schon egologisch-instrumentell, so doch noch immer als präsentische, anwesende Virulenz denken: Medien als lose Kopplung vorhandener Elemente, von denen sich Formen als strikte Kopplungen abheben (Luhmann), Medium als gestaltspsychologischer Grund für Form (McLuhan) - selbst die avanciertesten Theorien, die von jeder Egologie und Subjektzentriertheit freigesprochen werden können, kreisen noch immer in den Bahnen der alten Metaphysik. Und analog zur Dualität von Langue/Parole (Saussure), Tiefenstruktur/Oberflächenstruktur (Chomsky) lassen sich sie alle auf den Aristotelismus von Stoff und Form abbilden; zumindest aber auf den traditionellen Digitalismus von dynamis, potentia, Möglichkeit als jenem Schöpfungsgrund auf dem sich der actus, energeia, die Wirklichkeit generiert.
Wohlgemerkt: Das alle ist nicht falsch und unfruchtbar. Aber es ist der zweite Schritt vor dem ersten. Zweite Schritte allerdings, das heißt der Wiederaufstieg aus dem kenos, sind im Projekt einer allgemeinen Medientheorie und Theorie der Medialität dann nicht nur vorgesehen, sondern koinzidieren als notwendige Neuvermessung mit der Frage nach den Konsequenzen einer nicht mehr klassischen Metaphysik und Rationalität für die Situierung von Mensch und Medium. Was, so die Frage, wenn Medien in der für sie gefundenen Bestimmung gedacht werden können, was, wenn die Strukturen des monokontexturalen Denkens von Selbst und Welt zurückgelassen sind, ergibt sich für die Neusituierung des Menschen in seinen Medien?
So erst und dann erst schließt sich im Rücklauf die Möglichkeit auf, Medien in ihrer Struktur als soziale, sprachliche, materiale Kreationspotentiale zu entschlüsseln. Sind die Dualismen in ihrer Gesamtheit als Produkte einer aristotelischen Hegemonie überwunden, und ist die Internalisierung von Diskontexturalität als universaler Grundstruktur in der Lage, auch für Geistes-, Kultur- und Medienwissenschaften das in der Mathematik längst bekannte Prinzip der Dualisierung erfahrbar zu gestalten, dann ergeben sich zwangläufig Berührungen zwischen den verschiedenen Lagern der Innerlichkeits- und Äußerlichkeitsproselüten, die damit vermittelbar und dialogfähig werden. Auch sind Meditationen zwischen Konstruktivismus und Konstruktionismus denkbar, die auf diesem Wege ihre unreflektierte Verwandtschaft entdecken könnten. Der soziale Konstruktionismus, in der BRD nicht sosehr gefragt, nährt sich von eher britischen Quellen, z.B. Anthony Giddens, kann sich seinerseits aber auf deutsche Traditionen berufen und hat in Gadamer einen immer noch aktuellen und renommierten Denker zur Hand. Für den Konstruktionismus wird Wirklichkeit durch den Dialog im Medium der Sprache konstruiert. Alles ist Sprache. Die Sprache ist das Haus des Seins, formuliert auch Heidegger, die seit Humboldt virulente Einsicht der Sprach-Kreationisten (Weisgerber, Sapir/Whorf), die sich im Diktum "Nichts existiert außer durch Sprache" schließlich bis in transatlantische KI-Kreise herumgesprochen hat. [Winograd/Flores, 1886, 119] Die Einschätzung, daß Realität im Dialog entsteht, im Gespräch, in der sprachlich vermittelten Handlung, die dann auch die massenmedial vermittelte und netzgestützte Handlung/Kommunikation sein kann, eröffnet neben einer speziellen Begegnung von Gadamer und Derrida auch die Chance, daß sich der radikale Konstruktivismus im Kontakt mit den nach-Kantischen und vor allem nach-Neukantianischen Philosophen wieder im zeitgenössischen status quo philosophischer Theoriebildung einfindet.
Neben diesen kommunikativen und also - um mit Luhmann zu sprechen - hochunwahrscheinlichen Ereignissen, läßt sich aber eine Konsequenz aus der polykontexturalen und damit allgemeinen Theoretisierung des Mediums durchaus als wahrscheinlich erwarten: Der Mensch, der im Anschluß an diese Emanzipation aus dem Konzept der klassischen Rationalität als der transklassische Menschentypus angesprochen werden kann, gewinnt durch die Desedimentierung, die zu einer Transformation der Symmetrie der Dichotomien in Richtung auf komplexe Asymmetrien führt, eine neue Stufe der Freiheit vom Objekt, die seine Geistigkeit und Innerlichkeit radikal steigert. Damit ist für ihn schließlich ein Standort beziehbar, der das Wesen von Technik und Medien jenseits von Euphorie und Entsetzen zu fassen erlaubt. Weder sind Technik und Medien das Tote und Fremde der Äußerlichkeit, noch beanspruchen sie Domänen des Geistigen und der Innerlichkeit. Im Gegenteil, die transklassische Techno- und Mediologie ermöglicht dem transklassischen Menschen die unbeschränkte Selbstrealisation sowohl im Geistigen der Innerlichkeit wie in der Äußerlichkeit des Materiellen, ohne daß er sich mit der einen oder anderen Seite (der Form) identifizieren müßte.
Am Ende also obliegt es dem Denken, der trans-semiotischen und kenomischen Verfaßtheit in der geläute(r)ten stillen Gewaltsamkeit der (ereignenden) Chiasmen, sich seine Horizonte heterarchischer Ermächtigung zu erdenken. Denkräume ohne Architektonik und ohne eine Logistik der Ermöglichung. Die neue Kunst, sich medial zu Denken, verortet sich, indem sie endlich die Antagonismen disseminativ ent-ortend verwirft. Die Neue Kunst des Denkens erscheint so als Re-Präsentation des Prozesses der Verwerfung (des Digitalismus), wird das InterFace, der Chiasmus von Schnitt und Naht jeglicher Stelle existentieller Raumung, im Zwischen, jenseits von Zeichen und Bezeichnetem als trans-medialer Semiosis, in der Metexis der Zeitigung von Mensch und Welt im künftigen Zeitalter trans-digitaler, kenomischer und polylogischer Nano-Technologien der Selbst-Inskriptionen.
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