Joachim Castella
I.M.A.G.E.
Institut für Medienanalyse und Gestalterkennung
Wilhelm-Nieswandt-Allee 104, Postfach 12 02 79, 45 314 Essen
Vortrag im Rahmen des Seminars: Grenzen des Metamodells und seine Entgrenzung durch die Polykontexturale Logik. 14.-16.6.1996, Ltg. R. Kaehr, Bildungsstätte Hoedekenhus, Winzenburg, 15.06.1996, © beim Autor.
Um sich die Sprach- und Schriftkonzeption Günthers zu vergegenwärtigen, ist es hilfreich, einige Erinnerungen vorzuschalten, die uns mit Günthers theoretischen Wurzeln bekannt machen. Dies ist in erster Linie das Denken Hegels.
Günther also kommt von Hegel her, seine Dissertation handelt von den Grundzügen einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik, und dahinter verbirgt sich - um einen Hauptpunkt gleich vorweg zu nennen - die grundlegende Wende einer Reflexionstheorie, die sich auf den zunächst sonderbaren Standpunkt stellt, daß nicht das Selbstbewußtsein die Grundlage des Denkens ist, daß vielmehr umgekehrt das Denken die Grundlage des Selbstbewußtseins sei.
Das Denken ist der Grund des Selbstbewußtseins - man muß diesen Satz wohl ein wenig nachklingen lassen, um seine ganze Radikalität und tiefe Modernität ansatzweise zu erahnen.
Das Motiv dieser Umkehrung ist für Hegel das Unbefriedigen, das Kant hinterläßt. Kant arbeitet an der urphilosopischen Frage nach der Denkbarkeit der Welt: Wie kommt das Bewußtsein zu einem adäquaten Bild seiner Umgebung, wie gelingt der Übertrag des Seins in das Denken? Für Kant nun hebt alles Wissen mit der Erfahrung an, aber es erschöpft sich nicht in ihr, denn Wissen und gewisses Wissen (i.e. Erkenntnis) kann nicht in Abhängigkeit von den Sinnesorganen alleine liegen, über deren Täuschbarkeit bereits Descartes hinreichend Kenntnis gibt. Also muß es für den Verstand eine zuverlässigere Quelle der Erkenntnis geben, die in Unabhängigkeit von den täuschbaren Sinnesorganen liegt: Die Vernunft selbst, und hier die reine Vernunft, wird zum sicheren Rückzugsgebiet, aus dem allein die wahre Erkenntnis geschöpft werden kann, gerade so wie es die über alle empirischen Zweifel erhabene Mathematik vorexerziert. Das sich selbst begegnende Denken liefert die Basis der Erkenntnis, und alles sichere Wissen wird in der Selbstbewegung der Vernunft produziert. (Hinweis: Daher Kant gerne als Kronzeuge des Konstruktivismus.)
Nun erscheint aber eine eigenartige Schwierigkeit, wenn das Denken in sich beschlossen bleibt: Nichts, was nicht schon gekannt ist, kann erkannt werden ("Alles Wissen ist Erinnern" sagt die Anamnesis-Lehre Platons), alles was gewußt wird, wird in einem analytischen Verfahren gewonnen, mit dem die Vernunft sich auf sich selbst zurückwendet, und alle sicheren Urteile sind somit analytische Urteile. Hier dann erwächst die Grundfrage Kants: Wie gelangt das Denken - obgleich es in sich beschlossen bleibt - dahin, etwas neues zu erkennen, das nicht aus der Analyse des Gegebenen gewonnen wird, das vielmehr umgekehrt in der Synthese neues (nicht-empirisches) Wissen produziert? Wie also kommen wir zu synthetischen Urteile apriori?
Dies ist die Frage Kants, doch interessiert uns an dieser Stelle vordringlich ein anderer Aspekt seines transzendentallogischen Systems. Denn wenn das Denken nur in sich beschlossen bleibt, wenn dem denkenden Subjekt nur die Leistungen seiner selbst gegeben sind, dann erhebt sich die Frage nach dem Status und dem Verhältnis von denkendem Subjekt und den von ihm gedachten Vorstellungen. Vor-stellungen, griech. problemata, lat. objecte, sind also im weitesten Sinne Dinge, die nicht mit dem denkenden, vorstellenden Subjekt zusammenfallen, da sie von ihm unterschieden werden müssen - sonst könnten sie nicht als solche gedacht werden. Das Subjekt denkt etwas, und dieses Etwas begegnet ihm notwendig in der Form des Objektes, des ihm Gegenüberstehenden.
Was aber, wenn das Subjekt sich selber denkt, wenn es sich - und wir tun dies tagtäglich - auf den Prozeß seines eigenen Denkens besinnt, wenn es sich beim Denken bewußt wird, daß es selbst es ist, das gerade etwas denkt - und zwar sich selbst als denkendes? Das Subjekt denkt sich selbst - als Objekt. Das Subjekt spaltet seine Identität in ein Subjekt-Objekt, denn es objektiviert sich und zugleich ist es selbst dasjenige, das als Subjekt diese Objektivation vollzieht.
Wie geht das zusammen? Kant entscheidet sich dafür, der klassischen Logik den Vortritt zu lassen. Die nämlich besagt seit Aristoteles, daß es unmöglich ist, daß einem Ding zugleich und in der gleichen Hinsicht eine Eigenschaft zukomme und nicht zukomme: Entweder oder, tertium non datur, Subjekt oder Objekt! Und genau so wird die Frage nach Subjekt oder Objekt von Kant behandelt: Auf einigen Umwegen (Nur die Verwechslung von empirischer und intellektueller Anschauung führt das Denken in die Paralogismen der reinen Vernunft am Beginn der transzendentalen Dialektik.) plädiert er dafür, das Ich, das denkende Subjekt als notwendiges, aber grundsätzlich nicht faßbares Prinzip zu akzeptieren. Das Ich wird regulative Idee, die alles Denken notwendig begleiten können muß, aber somit bleibt das Ich allein "die einfache und an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der nicht einmal gesagt werden kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet." (KrV, B 404) Das Ich verkommt zum reinen X, zur einer Leerstelle, über die nichts Positives auszusagen ist, und um dem denkenden Selbst die Ehre zu retten, greift Kant auf die normative Kraft des Faktischen zurück. Will sagen: Daß das Ich "im Denken immer als Subjekt [...] betrachtet werden kann [...] ist ein apodiktischer und selbst identischer Satz; aber er bedeutet nicht, daß ich, als Objekt, ein für mich bestehendes Wesen, oder Substanz sei." (KrV, B 407)
Das also ist das Erbe, das Kant hinterläßt; ein Subjekt, das wir einerseits notwendig einfordern müssen, von dem wir aber andererseits keinerlei begriffliche Vorstellung haben. Gerade damit nun will Hegel sich nicht abfinden: Das Subjekt denkt sich als Objekt, ohne dabei seine subjektive Rolle aufzugeben, und wenn die Logik solches nicht konsistent zusammen bringen kann, dann ist das logische Konzept ganz offensichtlich zu eng. Tertium non datur, wir erinnern an Aristoteles, und können die lebenslange Auseinandersetzung Hegels als das Ringen darum begreifen, dieses Prinzip zu überwinden. Hegel ruft dagegen die Identität in der Differenz aus, und meint damit die Möglichkeit, daß ein Etwas als solches identisch mit sich bleibt, obgleich es zur selben Zeit und in der selben Hinsicht ein anderes ist. Eben so wie das denkende Subjekt als Subjekt sein eigenes Objekt ist, also sowohl Subjekt wie Objekt ist; eben beides und beides zugleich.
Wie aber soll das funktionieren? Die Antwort haben wir bereits gehört. Hegel ist bereit, um der Denknotwendigkeit des Subjekts willen das (unäre) Subjekt zu opfern. Nicht mehr das Selbstbewußtsein ist der Grund des Denkens, sondern das Denken ist der Grund des Selbstbewußtseins. Die Frage an Hegel muß dann lauten, wie dieser Grund, also das Denken, zu fassen ist, wenn es sich offenbar aus der Trägerschaft und Rechtshoheit des Subjekts herauslöst.
Nun, Hegel setzt dem Subjekt ein neues und umfassenderes Prinzip entgegen: den Geist. Der Geist, ein universales Ordnungs- und Konstitutionsprinzip, der als Weltgeist am Beginn der Zeit steht und sich in die Welt entläßt, der zu sich selbst kommt als subjektiver und objektiver Geist, um am Ende in der höchsten Form als absoluter Geist zu sich zurückzukehren. Sein Weg dahin ist die Geschichte, und der Schauplatz sind die vielfältigen Erscheinungsformen des Geistes, die als seine Entäußerungen die historischen Subjekte, ihre Institutionen und ihre geistigen Produktionen (Kunst, Religion, Politik) umfassen.
Das alles ist gewiß Metaphysik und in hohem Maße spekulatives Denken, doch funktioniert auch dies nur unter bestimmten strukturellen Voraussetzungen; Voraussetzungen nun, die Hegel deutlich von der Tradition, insbesondere von Kant, unterscheiden. Denn wenn der Geist am Anfang und am Ende steht, wenn er im Durchlauf durch die Historie sich selbst aus sich selbst entläßt (als subjektiver/objektiver Geist), um als das, was er immer schon war, zu sich zurückzukehren, dann kann dies eben nur gedacht werden, wenn man bereit ist, sich vom tertium non datur zu verabschieden. Die reine Sichselbstgleichheit in der absoluten Verschiedenheit (vgl. Phän, 53) ist auf dem (dichotomen, identitätstheoretischen) Boden der Aristotelischen Logik nicht mehr nachvollziehbar, und so ist es für das logische Establishment bis heute ein Mirakel und ein Affront, daß Hegel eine seiner großen Beschreibungen dieses Prozesses ausgerechnet als Logik überschreibt.
Damit können wir eine Zwischenbilanz ziehen, die an Kant und Hegel exemplarisch das Dilemma offenbart, in das wir geraten, wenn wir dem Denken des Denkens nachdenken: Entweder man hält, wie Kant dies tut, die Logik für ein unantastbares Gut, dann fordert die Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit der Logik (die immerhin die Konsistenz unseres Denkens garantiert) den Preis der begrifflichen, positiven Unbestimmbarkeit des denkenden Subjekts. Oder aber wir vertrauen Hegel und folgen ihm in das obskure Reich der Doppelbesetzungen, der Überdeterminationen, um dort den begrifflichen Zugriff auf das sich selbst (als Objekt) denkende Subjekt mit der Preisgabe eben dieser Logik zu bezahlen.
Erneut also: Entweder-oder, tertium non datur!?
Dies zu entscheiden, führt uns zu unserem Thema zurück, das wir nicht aus dem Auge verloren haben, auch wenn man sich fragen mag, was die Transzendentallogik Kants oder die Hegelsche Geistphilosophie mit den sprach- und schriftkonzeptionellen Überlegungen Günthers zu tun haben.
Auch hier werden wir einen Umweg in Kauf nehmen müssen, denn Günther begegnet uns zunächst als Logiker. Genauer: Als ein Logiker, der sich nicht beirren läßt von den offensichtlichen Inkongruenzen, die sich ergeben, wenn mit den Maßstäben der überkommen Logik das Denken Hegels vermessen wird.
Seine Hoffnung und sein Ausgangspunkt vielmehr ist der unbedingte Glaube, daß sich hinter der Logik Hegels tatsächlich ein klarer und konsistenter Formalismus verbirgt, der es erlaubt das Ideal der Exaktheit und Widerspruchsfreiheit mit der ganzen Tiefe des begrifflichen Reichtums bei Hegel zu versöhnen. Worum es Günther also geht, ist das Freilegen der logischen Struktur, die Hegel implicite verwendet, einer Struktur, die den Grad ihrer Logizität nicht dadurch einbüßt, daß sie die bis dahin geläufige Logik überbordet.
"Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegengesetzte Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst - nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche - ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist." (Phän, 23)
Angesichts solcher Konvolute kann Günthers Optimismus nicht überschätzt werden, und doch behaupten wir vorgreifend, daß in eben diesem Zitat die gesamte Sprach- und Schriftphilosophie Günthers en détail beschrieben ist.
Gehen wir also Schritt für Schritt vorwärts, um so das Leistungsprofil der neuen Logik Günthers zu präparieren, denn um eine neue Logik als eine formale Sprache wird es sich handeln müssen, wenn die alte, aristotelische Logik nicht in der Lage ist, Denkbewegungen der vorgestellten Art zu meistern.
Der Geist soll zu sich kommen als das, was er immer schon ist, hörten wir oben, und bekommen nun die strukturellen Bedingungen nachgereicht, die notwendig sind, damit das Eine das Andere werden kann, ohne aufzuhören, das Eine zu sein: Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.
Zirkularität also wird von Hegel zur konstitutionellen Grundlage erhoben, um die Denkbarkeit des Selbst als des Anderen zu sichern, auch wenn diese Denkarbeit als Antagon der Formalisierungsarbeit auftritt. Die Hegel-Forschung (Ute Guzzoni) hat dafür den Begriff vom Anfang-Ende als Struktur der Methode Hegels geprägt und damit seiner Absage an die eindeutige Abhängigkeit von Grund und Begründetem einen Namen gegeben. Selbstreferentialität heißt das gleiche Phänomen dann in anderen Theorie, die sich ihrerseits jedoch nicht mit der Unformalisierbarkeit dieses Geschehens abfinden