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3.3 Polykontexturalität


Wurde in den vorherigen Kapiteln implizit oder explizit mit Begriffen gearbeitet, die genuin Güntherscher Terminologie entstammen, so generierte sich das Verständnis in dem je geforderten Rahmen leicht aus der kontextuellen Setzung. Dies ist zwar im Anschluß an Wittgenstein - einen Begriff zu verstehen, heißt zu wissen, wie er verwendet wird - ein durchaus legitimes Verfahren pragmatisch-ostensiven Definierens1, jedoch darf darüber nicht vergessen werden, daß diese Termini einem ganz eigenen Kontext und einer ganz eigenen Genese entstammen. D.h. bei der zugestandenen heuristischen Kraft eines via Kontext geschaffenen Verständnisses, darf eine begriffliche Analyse nicht aus dem Auge gelassen werden, die darauf sieht, wie bestimmte Termini aus einem und für einen jeweiligen Kontext gebildet werden.

Dazu eine kurze Zusammenfassung des bisherigen.

Als ein Grundmotiv zeigte sich die Günthersche Abgrenzung von der klassischen, zweiwertigen Logik, die er als Formalisierung einer einwertigen Ontologie deklariert. Thema der klassischen Ontologie ist das Sein des Seienden und innerhalb der korrespondierenden Logik spiegelt sich dies darin wider, daß ihr nur ein designierender Wert zu Verfügung steht. Der zweite Wert, der als non-designativer nichts bezeichnet, gibt somit den Ort an, auf den das Sein abgebildet wird. Wird damit also zugestanden, daß, wenn Sein gedacht werden soll, es von irgendetwas/wem gedacht werden muß, so tritt dieses etwas, die Subjektivität qua Subjektivität aber nirgends als eigenständiges Thema in Erscheinung, sondern immer nur als Pseudo-Objektivität. Solange das Thema dieser Rationalität das irreflexive Sein ist, sind ihre Prozeduren widerspruchsfrei und entscheidbar. Wechselt aber das Thema und tritt neben das irreflexive Sein auch das Denken dieses Seins als Gegenstand des Denkens, so kann die klassische Logik diese Doppelthematik nicht mehr bewältigen. Es zeigt sich, daß das formale Gerüst mit nur einer Negation und nur einem designativen Wert zu schmal ist, um die auf sich selbst gerichtete Reflexion in ihrer Prozessualität abbilden zu können. Der Überschuß, der dem klassischen Denken erwächst, wird vielmehr in die schlechte Unendlichkeit der Iterationen von Metasprachen abgeschoben, die das Problem auf ewig vor sich herschiebt.

Mit dem hier skizzierten Bild der zweiwertigen Logik ist deren lokale und relative Berechtigung nun keineswegs bestritten, wie dies der Blick auf die Vermittlung verteilter Systeme ja deutlich erwies. Der enorme Erfolg der Technik wäre gänzlich unerklärlich, wenn die klassische Rationalität durch und durch phantasmagorischen Charakter hätte. Was bis hierhin gezeigt wurde und an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben werden soll, ist lediglich, daß die klassische Logik hinsichtlich komplexer Strukturen versagt und prinzipiell versagen muß. Hierbei sind als komplexe Strukturen solche anzusehen, die Subjektivität als Subjektivität und nicht als objektiven Teil des Seins behandeln, die, anders ausgedrückt, Selbstreferentialität thematisieren. Das bedeutet jedoch nicht eine Transzendentalität der Subjektivität zu behaupten, sondern umgekehrt wird das transzendentale Subjekt traditioneller Theoreme säkularisiert", allerdings nicht im Sinne von seiend als irreflexives Datum. Die Günthersche Logik erweist sich somit als eine solche, innerhalb derer Subjektivität als Subjektivität konsistent und widerspruchsfrei formalisiert werden kann. Bereits diese Forderung nach einer Logik, die Subjektivität thematisiert, weist Günther als einen Logiker aus, der die Grenzen der Logistik, d.h. der rein formalen und im Formalismus immanent agierenden Logik, hinaus geht, insofern er Logik nie als Selbstzweck begreift, sie vielmehr immer als Interpretament und umgekehrt als Interpreten auffaßt. Er kritisiert vielmehr, daß durch die Verdrängung der Ontologie aus dem logischen Bewußtsein die dringend notwendige Kritik dieser Ontologie und ihre Erweiterung durch neue Fundamentalprinzipien völlig unmöglich geworden ist."2 D.h. für ihn gibt es keine Trennung von Logik und Ontologie, sondern die eine Seite muß immer auf die je andere bezogen sein, da sie einzeln ihre Daseinsberechtigung verlieren. Denn: Formale Ontologie und Logik haben beide den Zweck, die Welt in Strukturen Abzubilden"3 Es gilt also zu verhindern, daß die eine Seite sich, in ihrem eigenen Formalismus vergessen, von jeglicher Semantik verabschiedet, während die andere ohne die Möglichkeit zur formalen Abbildung sich in den diffusen Sphären der Spekulation verliert. An die Logik erhebt sich also die Forderung, daß sich für sie auch eine ontologische Interpretation finden ließe, durch die die philosophische Einheit der Logik gewahrt bleiben würde."4 Das bedeutet jedoch nicht, daß Logik und Ontologie zusammenfallen, sie sind vielmehr immer aufeinander bezogene Bereiche, deren Trennung aber deutlich nachvollziehbar bleibt. We shall define an `ontology' as an structural system in which the distinction between designating and non-designating values is inapplicable, and which is determined by nothing else but the number of values available. In an ontology all values designate. However, if values permit a division between designation and non-designation, the system in question may be considered a `logic'."5 Anhand dieser Bestimmung läßt sich deutlich erkennen, inwiefern Günthers Rede, auch wenn sie sich in scheinbar bekanntem Territorium bewegt, gleichzeitig immer eine Transformation der geläufigen Begrifflichkeit bedeutet, so daß das Auftreten klassisch determinierter Termini nie dazu verführen darf, in ihm einen Adepten traditioneller Metaphysik zu sehen. Ist also die Trennung und wechselseitige Bezogenheit von Logik und Ontologie deutlich, so soll nun, nachdem im Vorherigen der Gedankengang immer auf die Logik zurückkam, der Blick der damit korrespondieren Ontologie zugewandt werden. Als diese erscheint aber, insofern Ontologie nun als strukturales Schema begriffen wird, das sich gänzlich dem Bereich essentieller Wesenssuche" entzieht, die Polykontexturalitätstheorie.

3.3.1 Der Begriff der Kontextur

Das klassische Denken geht von der elementaren Voraussetzung aus, daß alles, was ist eine gemeinsame ontologische Basis hat, die mit dem Begriff Sein (hä ontos on) bezeichnet wird, d.h das formale Grundthema der klassischen Logik ist das Parmenideische, sich selbst gleiche, unmittelbare Sein-überhaupt, in dem alle Unterschiede des partikulär Seienden in ihren Grund und Ursprung zurückgegangen sind."6 Demnach ist die Wirklichkeit aller Objekte die gleiche, als Seiendes ist alles Wirkliche gleich. Um die Struktur dieses Seinsbegriffes deutlicher zu durchdringen, rekurriert Günther auf jene Anfangspassage der Wissenschaft der Logik, in der Hegel das Sein bestimmt. Sein, reines Sein - ohne alle weiteren Bestimmungen. In seiner Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich [...] Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann [...] Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare, ist in der Tat Nichts, und nicht mehr und nicht weniger als Nichts."7 Läßt sich die Identifizierung von Sein und Nichts solcheart aus den Bestimmmungen des Seins herleiten, so muß auch der umgekehrte Weg die Deckung beider Bereiche zutage bringen. Und in der Tat ist an gleicher Stelle bei Hegel zu lesen: Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit dasselbe, was das reine Sein ist."8

Auf dem Boden der klassischen, monothematischen Ontologie, deren Thema allein das Sein des Seienden (on hä on) ist, vollzieht deren Formalisierung, die zweiwertige Logik, die Identifikation des Positiven mit dem Sein, während die Negation als nicht-designierender Wert einzig in Form des inhaltsleeren Umtauschmechanismus in Erscheinung tritt. Hält man aber an der ontologischen Bestimmung Hegels fest, wonach Sein und Nichts struktural identisch sind, so muß auch die Logik als formalisierte Abbildung der Ontologie diesem Anspruch genügen. Tatsächlich findet sich eine solche Entsprechung innerhalb der Logik, es ist das oben bereits erwähnte Isomorphieprinzip Reinhold Bärs, demzufolge zwar jede Aussage von ihrer Negation verschieden ist, jedoch kein wesentlicher Unterschied zwischen einer Aussage und ihrer Negation besteht. Damit sind beide Bereiche, Sein und Nichts, Positivität und Negation, einerseits klar von einander geschieden, andererseits ist aber an die Stelle der Werthierarchie, die das Sein an ihre Spitze setzte, nun durch das Isomorphieprinzip eine Heterachie getreten, derzufolge es sinnlos ist, einem der beiden Bereiche eine bevorzugte Stellung einzuräumen. Es zeigt sich also, daß jede zureichende Darstellung der Wirklichkeit sich auf zwei logisch äquivalente und komplemantäre Aussagensysteme verteilt", wobei es prinzipiell unmöglich ist, sie auf ein einziges zu reduzieren."9 Hinsichtlich Positivität und Negativität kann also von zwei strukturell geschlossenen Bereichen gesprochen werden, die eindeutig voneinander unterschieden sind. Ein solcher Bereich aber wird von Günther als eine Kontextur definiert. Die klassische Logik als geschlossene Kontextur ist ein strikt zweiwertiges System, das durch die Prinzipien der irreflexiven Identität, des verbotenen Widerspruchs und das ausgeschlossenen Dritten bestimmt ist. Was dieses System nun zur Kontextur indem von uns intendierten Sinne macht, ist ein zusätzliches Postulat, das dem `tertium non datur' attachiert werden muß. Wir stipulieren nämlich, daß die Alternative von Affirmation und Negation so universal sein muß, daß sie durch keinen höheren Bestimmungsgesichtspunkt von Positivität und Negativität in der denkenden Reflexion überboten werden kann."10 Was hiermit gemeint ist, wurde bereits mit jenem Beispiel aus dem Substanzverlust des Menschen angesprochen, wonach sich die Alternative rot - nicht-rot in die allgemeinere Alternative von Farbe - Nicht-Farbe aufheben ließ, und dieser Prozeß immer unter einem je höheren Gesichtspunkt ad infinitum vorsetzbar ist. In diesem Sinne können wir von einer Hierarchie sich in ihrer Allgemeinheit stetig überbietenden `tertia non dantur' sprechen, von denen keines das letzte ist, sondern immer wieder durch einen Bestimmungsgesichtspunkt von stärkerer Universalität überboten werden kann."11 Das war gemeint, wenn zuvor von struktureller Geschlossenheit eines Bereiches die Rede war. Denn die infinite Reihe der jeweils übergeordneten Gesichtspunkte für eine bestimmte Alternative ermöglicht zwar eine inhaltlich immer detailiertere Differenzierung, bleibt aber, insofern sie nie aus trinitarischen Axiomatik der klassischen Logik ausbricht, in ihrer Struktur unangetastet. Unter Kontextur - um es noch einmal zu wiederholen - verstehen wir also einen zweiwertigen Strukturbereich, dem zwar durch seine Zweiwertigkeit eine strukturelle Schranke gesetzt ist, dessen Inhaltskapazität und Aufnahmefähigkeit jedoch unbegrenzt ist."12

3.3.2 Diskontexturalität

Im vorherigen Abschnitt wurden Sein und Nichts als zwei struktural geschlossene Bereiche, also als Kontexturen bestimmt, die einander disjunkt gegenüberstehen. D.h. daß die Möglichkeiten und Mittel, die innerhalb eines Bereiches zur Verfügung stehen, niemals dazu ausreichen, den Bereich zu verlassen. Hinsichtlich von Sein und Nichts ist dies völlig unproblematisch nachzuvollziehen. Jede logische Kette oder jeder arithmetische Zählprozeß, deren wir uns im Bereich des Seins bedienen, finden ein Ende, wenn wir versuchen, die Grenze vom Sein zum Nichts zu überschreiten. Man kann im Nichts weder Schlüsse ziehen noch zählen."13 Ist ein solcher Übergang mit den immanenten Mitteln einer Kontextur nicht möglich, d.h. kann ein Übergang nicht unter Aufgabe der ursprünglichen kontexturalen Struktur vollzogen werden, so stehen sich (mindestens) zwei Kontexturen diskontextural gegenüber. Diskontexturalität als der strukturelle Abbruch, der zwischen zwei Kontexturalitäten existiert"14, findet sich nun nicht nur zwischen Sein und Nichts, es lassen sich vielmehr, gemäß der unendlichen Vielfalt der Kontexturen, unzählige Diskontexturalitäten entdecken. Aber: It should be kept in mind that, if we postulate a polykontextural Universe, the barriers of discontexturality which now cut through this empirical world, have lost nothing of their intransigency by being multiplied."15 So spielte Diskontexturalität etwa in der Analyse der Subjektivität (Cognition and Volition) mit, insofern das Ich nie in der Lage ist, die Bewußtseinsräume des Du als seine eigenen zu erleben. Da dies in umgekehrter Weise auch für das Du gilt, findet sich hier ebenfalls die von Baer konstatierte Isomorphie der Kontexturen, die sie in ein Verhältnis symmetrischen Umtausches versetzt. Anders gewendet heißt dies, ist eine zweite Kontextur der ersten in dem von Bär beschriebenen Sinn also zweiwertig und undialektisch isomorph, dann lassen sich diese Prozesse in der zweiten Kontextur spiegelbildlich wiederholen. Das bedeutet nun, daß alle angeblichen Aussagen über das Nichts, in denen man sich negativer Aussageformen bedient [...], in Wirklichkeit nichts anderes sind als maskierte Aussagen über das affirmative reflexionslose Sein! Und wenn Sein und Nichts nur einfache Spiegelungen voneinander sind, dann können wir im Abbild nichts lesen, was wir nicht schon im Urbild erfahren haben."16 Damit ist aber deutlich, daß Diskontexturalität nicht eine Frage inhaltlicher Differenz oder Übereinstimmung ist, d.h. Kontexturen, die sich diskontextural gegenüberstehen, können durchaus mit den gleichen inhaltlichen Bestimmungen gefüllt sein, ohne daß dadurch ihre strukturale Grenze, und auf die kommt es einzig an, aufgehoben würde. Günther macht dies sehr schön an dem Beispiel von zwei Seelen und ein Gedanke"17 deutlich, wenn er darauf hinweist, daß auch die letzte inhaltlich-gedankliche Kongruenz nicht darüber hinweghilft, daß der eine Bewußtseinsraum (Ich) auf ewig vom anderen (Du) kategorial geschieden bleibt. Es mag an dieser Stelle der Einwand erhoben werden, daß die diskontextural beschriebene Trennung der Bewußtseinsräume von Ich und Du wenn nicht eine Trivialität, so doch ein dem klassischen Denken konformes Schema darstelle, da wohl niemand bislang an einer solchen Trennung gezweifelt habe. Darauf läßt sich zweierlei entgegnen. Zum einen bedeutet das Subjekt als Kontextur zu begreifen, daß sich diese Kontextur gleichrangig neben anderen isomorphen Kontexturen ausmachen läßt, da Kontexturen untereinander heterarch vermittelt sind. Solche isomorphen Kontexturen