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4.2 Die Spur, die chora als negative Spendung des Nicht-Präsentischen (Derrida)


Ist also mit dem Ereignis ein Rahmen gegeben, innerhalb dessen sich struktural das gesuchte X" denken läßt, so verbietet aber die funktionale Anbindung des Ereignisses an die Seinsthematik seine vollständige Identifikation mit dem hier gesetzten Ziel. Das dritte Geschlecht darf sich eben nicht darin erschöpfen, im Jenseits der Grenze angesiedelt zu sein, um von dort aus seine Er-gebnisse wieder im Diesseitigen zu tätigen. Zwar wirkt es in das Diesseits der Grenze hinein, aber so, daß sein Wirken selbst dort nicht erfaßt werden kann. Das Dritte muß sich in seiner Ganzandersartigkeit so sehr bewahren, daß selbst noch seine Gewährnis in dieser Andersartigkeit verbleibt, sich also dem Diesseits der Positivität selbst noch entzieht.1 Erst dann wäre es wirklich das Denken des Außen, wenn dieses Denken nicht mehr das von einem Innen her, und das heißt letztlich das von einer Subjektivität vorgestellte Außen ist, sondern das dem Logos der Präsenz auf zweifache Weise unfaßbare ist. Doppelte Irrationalität nicht als potenzierter Wahnsinn, sondern als die Unmöglichkeit, sowohl vom Innen her dieses Außen zu bestimmen, zu beschreiben, zu benennen, als auch die Unmöglichkeit, die Wirkungen von diesem absolut notwendigen Ort"2 positivsprachlich angeben zu können.

Ein solches aber, das sich somit struktural und funktional vollständig dem der Positivität und der Präsenz unterworfenen Logos der Beschreibung entzieht, findet Derrida, in Anlehnung an Plato, in der chora. Erst die Vollständigkeit mit der sich die chora der Faßbarkeit dieses Logos entzieht, entspricht der eingeforderten Entschiedenheit, da sich das Ereignis zwar auch der positivsprachlichen Beschreibung entzog, dies jedoch nicht für seine Er-gebnisse galt, die ja manifest als Daten der Präsenz innerhalb der Positivität verhaftet blieben. Für die chora hingegen gilt wesentlich radikaler, daß man von ihr noch nicht einmal sagen kann, daß sie Statt gibt oder daß es die khora gibt [...] Khora ist nicht einmal (dies)es (a), das es des Gebens vor aller Subjektivität. Sie gibt nicht Statt [...], so wie man etwas geben würde, etwas, das sein würde, sie erschaft nichts und bringt auch nichts hervor, nicht einmal ein Ereignis als eines, das Statt findet. Sie gibt keine Anordnung und macht keine Verheißung. Sie ist radikal ahistorisch, denn nichts widerfährt durch sie und nichts widerfährt ihr."3 Mit der chora ist also ein etwas" gegeben, dem selbst noch die dem Ereignis zuerkannte spezifische Dynamik fehlt, insofern chora nicht mehr als der eröffnende Raum erscheint, der Seiendem die Gewährnis gibt zu sein und das sich, ebenso wie das Ereignis, der positiven Beschreibung und Benennung des es gibt entzieht. Dasjenige, was unter der chora gedacht werden muß, vollzieht also seine vollständige Bewahrung in der Andersartigkeit, da die chora, die selbst nichts mehr gibt und figuriert, keinem Telos folgt, welches sie wieder in die Diesseitigkeit der Präsenz zurückführte. Wenn hier davon die Rede ist, daß die chora nichts gibt, nichts figuriert, nicht einmal die Gewährnis eines Statt-gebens ist, so darf dies nicht als Widerspruch dazu gesehen werden, daß die chora als die Möglichkeit von Sinn beschrieben wurde. Chora gibt nichts, figuriert nichts, da solche Vollzüge, auch wenn sie sich aus der Negativität heraus ereignen, immer schon Metaphorisierungen des positiven Denkens sind, deren/dessen Ermöglichung aber die chora erst ist. Möglichkeit von Sinn zu sein, aber gerade ohne selber Sinn zu sein oder zu haben, muß in Analogie zur reinen dynamis gedacht werden, die, frei von jeglicher inhaltlichen und substantiellen Konkretion, sich dem Erscheinen entzieht und allein in ihren Spuren erspürt werden kann, die aber im selben Augenblick radikal von ihr verschieden sind.

Brachte das Ereignis als Ermöglichung von Sinn diesen Sinn hervor, insofern Seiendes in sein Anwesen gelangte, also Sinn immer Sinn von Sein war, so transformiert die chora als dasjenige, was sich nicht nur in der Negativität lokalisieren" läßt, sondern was aus dieser Negativität nichts hinaus sendet/spendet, auch die Bestimmung von Sinn.4 Das Ereignis spendet den Sinn, die chora ermöglicht Sinn, und dieser Sinn kann nun nicht mehr verstanden werden als derjenige, der sich aus dem Anwesen erkennen läßt, da die Ermöglichung von Sinn mit der chora radikal im Jenseits der Grenze, in der Negativität beschlossen bleibt. Nichts Positives dringt heraus, so daß sich das hier der Ermöglichung selbst noch dem verortenden Bemühen entzieht. Wenn Sinn also ermöglicht wird, ohne sich in dieser Ermöglichung in irgendeiner Weise dem Sein, der Präsenz zu verdanken, sondern sich alleine aus/vor der Negativität ereignet, dann muß sich sagen lassen, daß der Sinn nun nicht mehr der der Präsenz ist, sondern jener, der sich, um mit Heidegger zu sprechen, als die aletheia der Negativität ergibt, also als das, was bei Günther die Wahrheit der Negativität des Nichts heißt.5 Sinn aus der Negativität, Sinn der Negativität, ist demnach Sinn, der sich erstellt aus dem verborgenen "Geschehen" des chora, die ihn, sich ihm entziehend, ermöglicht. Somit führt die chora eine Dissoziation oder eine différance in den eigentlichen Sinn ein, den sie möglich macht, und zwingt auf diese Weise zu tropischen Umwegen, die nicht mehr Figuren der Rhetorik sind."6

Hier reicht Derrida an jene Bereiche heran, die Heidegger zufolge dem Menschen wesenhaft verschlossen sind, seine Umwege versuchen jenen Über- und Umblick zu bereiten, den Heidegger für aussichtslos hält. Das Sprachwesen vermögen wir nicht zu umblicken, weil wir, die wir nur sagen können, indem wir die Sage nachsagen, selbst in die Sage gehören."7

Wie aber könnten diese Umwege beschaffen sein, von denen Derrida hier spricht? Er selbst, der sich angesichts der chora vor die Frage gestellt sieht: Wie davon sprechen?"8, sieht sich zwar im Gegensatz zu Foucault weit davon entfernt, zum Schweigen zu verurteilen"9, doch scheint es, als verblieben seine Antwortversuche eher im Proklamatorischen. Die chora zu benennen, die sich vehement jeder Benennung widersetzt, bedeutet für Derrida nicht, ihr einen Namen zu geben, sondern sie nennen/rufen, sich adressieren an sie in ein und derselben Weise [...] Dies ist keine Frage des Eigennamens, eher der Benennung/Anrufung, einer Weise des Sich-Adressierens. Prosero: ich adressiere mich, ich adressieren mein Wort/mein Sprechen an jemanden ..."10

Hier ist deutlich das Bemühen zu spüren, das Jenseits der Grenze in seiner vollkommenen Andersartigkeit bestehen zu lassen, die sich selbst einer Titulierung aus dem Diesseits verschließt, denn die Possesivität des Eigennamens ereignet sich stets als die - selbst der Existenz ihres Signifikats enthobene - (Re)Präsentation. Hier spricht sich das Wissen darum aus, daß die chora sich zur Gänze in der Negativität verschlossen hat, die ein Eindringen auf dem Boden der Positivsprache verunmöglicht. Sie zieht sich vor dem Namen zurück, jedes Benennen stößt sie von sich anstatt sie zu erreichen, ähnlich dem Finger, der versucht einen freischwebenden Luftballon zu zerstechen. Worin aber unterscheidet sich das Adressieren Derridas vom Foucaultschen Schweigen? Die Suche nach dem X", die sich anhand der von Heidegger und Derrida gelegten Spuren vollzog, lieferte zwar eine wenn auch negative Eingrenzung des zu Denkenden, sogar ein Wort steht am Ende dafür: chora, doch weiß auch Derrida: Plato hatte kein anderes anstatt."11 Mit dem Wort aber sind nur allein die unzureichenden Möglichkeiten der Sprache und ihrer Logik gegeben, und mit diesen Möglichkeiten bleibt auch Derridas Trost ein schwacher und im eigentlichen Sinn erst Ansporn. So unzureichend sie auch bleiben, sind sie doch gegeben, bereits von dieser unerhörten Spur gezeichnet, verheißen in ihr, die nichts verheißen hat. Diese Spur und diese Verheißung werden stets eingeschrieben in den Körper einer Sprache, in ihre Lexik und Syntax, aber man muß sie auch, mag sie auch noch so einmalig sein, wiederfinden können in anderen Sprachen, anderen Körpern, anderen Negativitäten zumal."12

Der Ansporn, auf den hier abgezielt wird, stellt sich also erneut in der Frage: Wie davon sprechen?

1Daß diese Anforderung das unmittelbar mit der Sprache verbundene Konzept des Ereignisses übersteigt, wird deutlich, wenn Otto Pöggeler explizit auf den nicht zu lösenden, ja herrausragenden Nexus von Sprache und Präsenz insistiert. Unter den Weisen, Wahrheit eigens zu verwahren, hat die Sprache freilich eine Auszeichnung: die anderen Weisen des Wahrheits- und Weltgeschehens sind nicht ohne sie. (vgl. Holzwege, S. 60ff) Die Frage nach der Sprache kommt zur Frage nach Wahrheit und Welt nicht als eine andere hinzu, sondern ist die Frage nach Wahrheit und Welt, gefragt in Hinsicht darauf, wie Wahrheit eigens hervorgebracht und so verwahrt, Welt bewohnt wird." (O. Pöggeler: Der Denkweg. S. 268.) Ganz deutlich schließt sich der Kreis, wenn Heidegger ausfühert: Insofern unser Wesen in die Sprache vereignet ist, wohnen wir im Ereignis. [...] Das Ereignis vereignet Mensch und Sein in ihr wesenhaftes Zusammen. [...] Im Ereignis schwingt das Wesen dessen, was als Sprache spricht, die einmal das Haus des Seins genannt wurde."(Identität und Differenz. Pfullingen 91990, S.26ff) Wilhelm Anz weist darauf hin, daß das Verständnis vom Wesen der Sprache als Haus des Seins", als Ort der Seinserschlossenheit in Sein und Zeit noch deutlich vom Humboldtschen Sprachbegriff als Tätigkeit des Geistes (energeia) geprägt ist, Sprache somit eine Zwitterstellung einnimmt zwischen den Polen des einerseits seinseröffnenden Ankommen-Lassens der Sprache und andererseits jener sich der hermeneutisch-zirkulären Verfangenheit ihrer Aussagen nicht bewußten Intrumentalisierung der Sprache für das Denken. Den Grund für diese Ambivalenz, in der Anz die Vorbereitung des ganz auf das Sein hin orientierten Sprachbegriffes erkennt, findet er in jenem Sein und Zeit durchziehenden Spannungsverhältnis, das sich zwischen dem genuinen Heidegger und seinem Husserlschen Erbe erstrecke. Insofern nämlich Zeitigung von Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) als Apriori jeglichen Seinsverständnisses gelte, gleichzeitig aber die existenziale Analyse noch in der Zerrissenheit von Selbstauslegung des Daseins und phänomenologischer Interpretation stehe - denn der Gedanke einer Hermeneutik des Daseins enthält in sich den Verzicht auf die Methodenbegriffe der phänomenologischen Forschung" - lasse diese Zwischenstellung der Analytik [...] nicht zu, Sprache aus der Zeitigung von Zeit als Geschehen von Offenbarkeit zu entfalten." (W. Anz: Die Stellung bei Heidegger. in: O. Pöggler (Hg): Heidegger. Perspektiven. S.305-320, hier S.308f.) Eben diese Zweideutigkeit der hermeneutischen Phänomenologie" konstatiert Pöggeler, wonach der Anschein bleibt, als sei das Verstehen im historischen Sinn das Sichselbstverstehen eines Menschentums, das als Grund angesetzt ist, von dem her alles erklärt werden soll." (Der Denkweg. S.284)
2J. Derrida: Wie nicht sprechen. S.64
3a.a.O., S.69. Während Derrida in Wie nicht sprechen chora durchgängig mit dem bestimmten Artikel aufführt, gelangt er im Verlauf des Fragments Chora dazu, daß eine solche Rede immer die Implikation eines bestimmten Seienden mit sich führe. Genau dies aber sei hinsichtlich eines Seienden, das sich allen positiven Bestimmungen und Beschreibungen widersetze, nicht der Fall, weswegen das Auslassen des Artikels erlaube zu sagen, Es gibt chora - die chora aber existiert nicht." (J. Derrida: Chora. Wien 1990, S.24. Hervorhebung im Original.) Die vorliegende Arbeit jedoch behält die konventionelle Schreibweise bei und spricht, wie Derrida in Wie nicht sprechen, weiterhin von der chora, da das Auslassen des Artikels zwar als ein Index für die Unfassbarkeit dieses X" angesehen werden kann, diese Auslassung aber gerade nur indizierende Qualität hat. D.h. die radikale Andersheit des in der chora zu Denkenden kann, wenn überhaupt, allein in der folgenden textuellen Auseinandersetzung zum Erscheinen kommen, wobei eine solche Darstellung dann - über den Artikel hinaus - auch den Namen selbst durchzustreichen hätte. Insofern erscheint es als eine Halbherzigkeit, allein auf den Artikel zu verzichten, erhebt schon der Name selbst den Anspruch auf einen Referenten. Derrida selbst weiß dies (Doch wenn ich chora und nicht die chora sage, so mache ich immer noch einen Namen daraus [,allein] der Referent dieser Referenz existiert nicht." (J. Derrida: Chora. S.23. Hervorhebung im Original.) und entscheidet sich in dem Fragment für die Auslassung. Die vorliegende Arbeit geht den anderen Weg und versucht das Indizierte, und somit auch die Inkompatibilität des/eines Namens selbst, im weiteren Verlauf transparent werden zu lassen.
4Deutlich wird dieser Unterschied von Ereignis und chora, wenn beispielsweise Irmgard Bock bei allem Bemühen, das Ereignis im Jenseits von Positivität und Sprache anzusiedeln, gerade auf dem von Derrida monierten Präsenz-Bezug besteht. Indem es das Zeigen ereignet, ist es das Ereignis, das alles gewährt, ohne ein Machen oder Begründen zu sein. Das Er-eignis ist auf keinen Fall kausal, aber auch nicht als ein Vorkommnis, selbst nicht als Geschehen vorzustellen, obwohl in ihm die Zeit mit gedacht ist. Das wäre der Versuch, es auf etwas anderes zurückzuführen, und solchem Bestreben widersetzt sich das Er-eignis. Es ist überhaupt nicht vorzustellen, auch wenn man sich bemüht, das Vorstellen nicht im Sinne des Objektivierens und Gegenüberstellens zu vollziehen. [...] Das Ereignis ist das reine Gewährende, dem alles `es gibt' erst entströmt, auch das Sein, das `es gibt' als Anwesen des Anwesenden." (I. Bock: Heideggers Sprachdenken. Meisenheim am Glan 1966, S.102f)
5vgl. G. Günther: Beiträge III, S.285. Wenn oben als diejenigen, die sich in besonderem Maße um die Thematik der Negativität bemühen, gemeinsam Kristeva und Derrida genannt wurden, im Laufe der Erörterung jedoch allein Derrida als Kronzeuge herangezogen wurde, so findet dies seinen Grund darin, daß Kristeva zwar strukturell mit den hier angeführten Sachverhalten übereinstimmt, sie allerdings die hier thematisierten Bereiche - Negativität, chora - bereits in einer psychoanlaytisch motivierten Instrumentalisierung verwendet. So stellt die chora zwar auch bei ihr jenen prärepräsentative Raum dar, der jedoch ganz konkret gefaßt wird, als eine ausdrucklose Totalität, die durch die Triebe und deren Stasen in einer ebenso flüssigen wie geordneten Beweglichkeit geschaffen wird." (J. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. S.36, Hervorhebung im Original.) Entsprechend verhält es sich mit der Negativität, die als prälogische, präsymbolische Funktionsweise erscheint, welche allererst signifikanten- und subjektbildend wirkt. Solcherart konkret angebunden an die im Lacanschen Sinn zu verstehende Ordnung des Realen und Symbolischen, setzt die Negativität, die folgerichtig bei Kristeva dann auch Verwerfung heißt, ein Objekt als vom Körper getrenntes und fixiert es im Moment der Trennung als anwesend: als Zeichen. Damit führt das Verwerfen das Objekt als Wirkliches ein, das gleichzeitig bezeichenbar wird in dem Sinne, daß es für ein dem signifikanten System zugehöriges Objekt gehalten wird, als dem Symbol untergeordnet, das es mit dem Zeichen setzt." (a.a.O., S.128.Hervorhebung im Original.) Aus den angeführten Zitaten wird deutlich, inwiefern die oben angestrengten Bemühungen um die Negativität nicht dem von Kristeva eingeschlagenen Weg zu folgen vermögen. Zwar wird diese Übertragung auf die Psychoanalyse und ihre eigene Semiologie von Kristeva durchaus legitim und stringent vollzogen, doch geht durch diese Funktionalisierung und ihre damit einhergehende Konkretisierung sehr viel von der ursprünglichen Sprengkraft der totalen Unfaßbarkeit verloren.
6J. Derrida: Wie nicht sprechen. S.68. Hervorhebung im Original
7M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache. S.265
8J. Derrida: Wie nicht sprechen. S.69
9a.a.O., S.70
10ebd. Hervorhebung im Original.
11ebd.
12a.a.O., S.71


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