1.1 Die Dialektik von Teil und Ganzem, Sagen und Verschweigen
Betrachtet man das Werk Gotthard Günthers unter dem Gesichtspunkt, es einer umfassenden und adäquaten Darstellung zugänglich zu machen, so taucht ein Problem auf, das, im selben Maße es die Arbeit erschwert, gleichzeitig einen bezeichnenden Hinweis auf die Struktur des Güntherschen Opus' liefert. Die Frage, auf die hier angespielt wird, heißt schlicht und einfach: Womit fängt man an? Die Trivialität dieser Frage, die darüberhinaus wohl jeden schon beschäftigt haben mag, der sich um die konsistente Wiedergabe irgendeines Systems oder irgendeiner Theorie bemüht hat, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihr im Zusammenhang mit Günther eine ausgezeichnete Stellung zukommt. Die eingehende Lektüre dieses wenn auch nicht wirkungsmächtigsten so jedoch äußerst originellen und eigenständigen deutschen Logikers und Philosophen der Kybernetik1 liefert nämlich nicht das Bild eines streng deduktiven und sukzessiv aufgebauten Gedankengebäudes, sondern weist sein Schreiben aus als ein ständiges, oftmals von extrem unterschiedlichen Punkten ausgehendes Kreisen um ein fest umrandetes Problemfeld. Damit soll nun weder die methodische Strenge Günthers in Frage gestellt werden, noch ist damit gemeint, sein umfangreiches Schrifttum stelle, wenn nicht viel Rauch um nichts", so doch viel Rauch um immer dasselbe" dar. Daß ein fest umgrenzter Rahmen nicht gleichbedeutend sein muß mit thematischer Dürftigkeit, sei mit einer von Günther häufig verwendeten Unterscheidung von Reflexionsbreite im Gegensatz zur Reflexionstiefe2 schnell ad absurdum geführt.3 Versucht man nun den Themenkreis durch das Auflisten einiger der markantesten Begriffe abzustecken, so lassen sich etwa folgende Termini als besonders signifikant aufführen: Subjektivität, Reflexion, Technik, System, Umwelt, Selbstreferentialität, Kontextur, Maschine, Hierarchie, Heterarchie, Proemialität, Kenogrammatik, Strukturtheorie, ...
Diese Liste erhebt keinesfalls den Anspruch auf irgendeine Vollständigkeit und ist in ihrer Reihenfolge nicht als Relevanzindex zu verstehen. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Gemeint ist damit, daß keinem der hier angeführten Termini in irgendeiner Form die Rolle des primus inter pares zukommt, nach der er den basalen Grund liefert, auf dem sich das Denken Günthers aufbaut. Vielmehr zeigt sich, daß die Interdependenzen der hier schlaglichtartig angeführten Themata so angelegt sind, daß ein wirkliches und tiefes Verständnis des einen immer auch das der anderen voraussetzt. So erhellt beispielsweise erst die Kenntnis des Gesamtkontextes die für Günther spezifische Transformation klassischer Begriffe, wie umgekehrt diese Transformation allererst Voraussetzung ist, in das von ihm generierte Neue eindringen zu können. Unter einer solchen Transformation muß jene methodische Vorgehensweise verstanden werden, die mit klassischen, d.h. von der philosophischen Tradition besetzten Begriffen arbeitet und sich auf einer Oberflächenstruktur in diesem Duktus bewegt, die aber deren angestammte Bedeutung, also die ursprüngliche Tiefenstruktur, im Verlauf der Argumentation vollständig unterminiert.4 So erschließt erst eine eingehende Lektüre, daß das Gesagte nicht mit dem traditionell Bedeuteten konvergiert.
Erhebt sich nun der Einwand, warum Günther überhaupt noch mit den alten Begriffen agiere und nicht vielmehr ein neues Vokabular einführe, so muß darauf gesehen werden, daß er sich hiermit im Rahmen des schon klassisch zu nennenden Dilemmas der Dekonstruktion bewegt. Gefangen in der Terminologie, Semantik und Grammatik der Tradition kann ihre Revision, Neuschreibung oder Vernichtung sich allein ihrer Mittel bedienen. Jaques Derrida faßt dies treffend zusammen, wenn resümiert: es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache - über keine Syntax und keine Lexik -, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen dekonstruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte."5 Günthers Haltung jedoch ist ausdrücklich nicht anti-metaphysisch. Was er überwinden will - und als Methode dazu dient ihm, auch wenn er diesen Terminus an keiner Stelle verwendet, die Dekonstruktion6 - ist die klassische aristotelische Metaphysik, die uns in die eisige Gletscherwelt des ewigen unveränderlichen Seins geführt und willig alles warme Leben und seine Geheimnisse dem Mythos und der Poesie überlassen" hat.7 Sein Projekt also ist es nicht, zum Alleszerstörer zu avancieren, vielmehr gilt es, das Vorhandene in seiner Beschränktheit (an)zuerkennen und an der richtigen und notwendigen Stelle zu verorten.8
Damit dann soll dem Wiederaufbau einer ausdrücklich als solcher hervorgehobenen neuen Metaphysik"9 der Boden bereitet werden.
Auf diesem Weg verfaßt er kein System more geometrico, so daß die von ihm begrifflich intendierte Bedeutung sich anhand von Axiomen und Ableitungen fixieren ließe, vielmehr muß es hier in Anlehnung an den Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen heißen: Einen Terminus verstehen, heißt zu wissen wie er verwendet wird. Das aber setzt eine den Gegebenheiten des Buches und der Linearität des Lesens gänzlich zuwiderlaufende Art der Lektüre voraus. Nicht sukzessives Nacheinander, sondern simultanes Zugleich ist eigentlich gefordert; eine Forderung jedoch, die um ihre Unmöglichkeit weiß. Bleibt sie dem Leser jedoch als Anspruch im Hinterkopf, so vermag sie sich vieleicht in der unbedingt notwendigen Wachheit Realität zu verschaffen, die ein vorschnelles Zu-verstehen-Glauben auf Grund des eigenen philosophischen Vorverständnisses verhindern mag.
Es ist müßig darüber zu spekulieren, inwieweit Günther selbst sich in Bezug auf sein eigenes Werk den Problemen der Linearität des Leseaktes gegenwärtig war, in jedem Fall aber bietet das reichhaltige Aufsatzwerk der drei Bände der Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik in seiner Anlage einen Zugang, der diese Sukzessivität zumindest partiell aufbrechen verhilft. Dies insofern als jeder einzelne Beitrag auf gänzlich eigenständigem oder - dem ersten Blick nach - auf bereits betretenem Pfad den Leser in immer neuen Anläufen mit dem Denken Günthers konfrontiert. Damit erscheint das Werk nicht als monolitischer Block, den es gilt Stück für Stück abzuschreiten, das System Günthers - wenn denn dieser Begriff überhaupt angemessen ist - scheint vielmehr hinter den Texten zu liegen und die Lektüre eines Aufsatzes bringt in der Beleuchtung eines Ausschnittes gleichzeitig ein Mitbedeuten und Mitschwingen des Ganzen mit sich, das als das Unerwähnte jedoch sich der Präsenz verweigert.
1Ditterich/Kaehr weisen eine Klassifizierung des Güntherschen Werks unter Philosophie der Kybernetik" als ein Mißverständnis ab und insistieren auf der doppelten Einordnung kybernetische Philosophie/philosophische Kybernetik". J. Ditterich/R. Kaehr: Einübung in eine andere Lektüre. Diagramm einer Rekonstruktion der Güntherschen Theorie der Negativsprachen. Ph.Jb.86,1979 2.Hb., S.385-408, hier S.391. Diese richtige und wichtige Unterscheidung steht jedoch nicht im Widerspruch, Günther selbst als Philosophen der Kybernetik" zu bezeichnen. Sie muß vielmehr als Interpretament dieser Titulierung gelten, insofern es sprachlich unglücklich erscheint, ihn als kybernetischen Philosophen" bzw. philosophischen Kybernetiker" zu bezeichnen.
2Da auf diese Begriffe im weiteren Verlauf noch ausdrücklich eingegangen werden soll, sei an dieser Stelle eine etwas nonchalante Erklärung gestattet, nach der Reflexionsbreite sich auf den Bereich unterschiedlicher Kompliziertheit, Reflexiontiefe sich auf die unterschiedlichen Graduierungen an Komplexität innerhalb der Reflexion beziehen.
3Die an dieser Stelle angeführte Apologie Günthers darf keineswegs als eine devote Verbeugung vor dem Meister verstanden werden, sondern versucht einem häufig anzutreffenden Miß- und Unverständnis entgegenzusteuern, welches sich selbst in dissertierende Formulierungen einschleichen vermag, wenn Günthers Werk (durchaus nicht zu unrecht) mit einem Puzzle verglichen wird, über dessen Teile es dann allerdings in vollständiger Verkennung heißt. Auch die Einzelteile lassen nicht auf eine Ästhetik schließen, ja, schreitet man in der Lektüre voran, so überfällt den Leser schon in Kürze das Grauen, das Grau der Langeweile. All diese Puzzlestückchen ähneln sich auf penetrante Art und Weise und erzeugen in ihrer gestanzten Gleichförmigkeit keinesfalls jenen Rausch, der den Puzzler in Erwartung eines vielgestaltigen, farbentrunkenen Motivs überfällt." (U. Herith: Hinter dem Rücken der Maschinen. Über die Synkrisis von Autonomie und Kommando als Voraussetzung bereinigten Erkennens. Gießen 1989, S.37) Über die Anfrage hinaus, welchem Rausch diese Zeilen entsprungen sein mögen, sei jeglicher Kommentar erspart.
4Derrida, der sich mit der Verwendung des Geist-Begriffs bei Heidegger auseinandersetzt, findet in den frühen Schriften (bis Sein und Zeit) eben jenen uneigentlichen" Gebrauch des Wortes (Gewiß, es ist dasselbe Wort, und doch ist es ein anderes."), und formuliert dieses Divergieren von Oberflächen- und Tiefenstruktur in Anlehnung an die Sprechakttheorie, als die Unterscheidung von Gebrauch und Erwähnung." J. Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage. Frankfurt/M 1988, beide Zitate S.39. Hervorhebung im Original.
5J. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M 21985, S.425
6Die Methode einer solchen Dekonstruktion ließe sich somit unter der Maxime begreifen, alle diese alten Begriffe [...] wie Werkzeuge, die noch zu etwas dienlich sein können, aufzubewahren und nur hier und da die Grenzen ihrer Brauchbarkeit anzuzeigen. Man gesteht ihnen keinen Wahrheitswert und keine strenge Bedeutung mehr zu, man wäre sogar bereit, sie bei Gelegenheit aufzugeben, für den Fall, das passendere Werkzeuge zur Hand sind. Bis dahin wird ihre relative Wirksamkeit ausgebeutet und benutzt, um die alte Maschine, der sie angehören und deren Versatzstüke sie sind, zu zerstören." (J. Derrida: a.a.O., S.430) Damit ist deutlich, daß die Dekonstruktion von innen heraus agiert, d.h. es gilt, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen, [...] ohne Atome und Elemente von ihr absondern zu können." (J. Derrida: Grammatologie. Frankfurt/M. 21988, S.45) Ist damit die negative Bestimmung geleistet, so kann die dekonstruktive Bewegung damit jedoch nicht zum Stillstand kommen, insofern ihr gleichzeitig die Aufgabe erwächst, sich positiv zu definieren, d.h. der reinen Destruktion das kon" einer Neuschreibung hinzuzufügen. Anders: Die Dekonstruktion kann sich nicht auf eine Neutralisierung beschränken oder unmittelbar dazu übergehen: sie muß durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schrift, eine Umkehrung der klassischen Opposition und eine allgemeine Verschiebung des Systems bewirken." (J. Derrida: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S.313. Hervorhebung im Original)
7G. Günther: Beiträge I, S.X. Das Verzeichnis der zur Zitation verwendeten Abkürzungen ist dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Wenn die Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik zitiert werden, geschieht dies im Regelfall ohne Nennung des jeweiligen Aufsatztitels unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl (z.B. Beiträge II, S.34). In den Fällen, in denen über eine längere Sequenz hinweg intensiv auf einen Aufsatz eingegangen wird, erfolgt aus Gründen der Lektüreerleichterung eine einmalige Nennung des jeweiligen Titels sowie die weitere Zitation unter a.a.O.". Grundsätzlich wird, wenn aufeinanderfolgende Zitate in Autor, Werk und Seitenzahl übereinstimmen, darauf mit ebd." verwiesen.
8Denn wenn man vermutet, daß die deprimierende Resultatlosigkeit aller modernen Absoluttheorien sich auf eine falsche, resp. sinnlose, transzendentale Fragestellung zurückführen läßt, andererseits aber der Sinn dieser Entwürfe identisch mit dem letzten universalen Sinn des traditionellen Systems der Logik überhaupt ist, dann ist der Gedanke nicht mehr von der Hand zu weisen, daß diese Logik sich als unzulängliches Vehikel philosophischer und speziell metaphysischer Intentionen entpuppt." G. Günther: Beiträge I, S.35
9a.a.O., S.73
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