1.2 Absenz als Bedingung der Präsenz
Es ist an dieser Stelle irrelevant, ob man diesen Prozeß des Sagens, das gleichzeitig auch immer ein Verschweigen ist und sein muß (Derrida), ob man dieses Schreiben, das, indem es das eine sagt, das andere voraussetzt und indem es das andere voraussetzt, erst das eine sagen kann, das sich also erst in seiner Bedeutung konstituiert, indem es auf dem Verschwiegenem gründet1, ob man dies nun Dialektik nennt oder so weit zu gehen wagt, und mit Heidegger an das Entbergen denkt, das in gleichem Maße immer auch ein Verbergen ist. Was hier vielmehr wichtig erscheint, ist, daß ein Schreiben, welches sich nicht in der geschlossenen Weise präsentiert, zwischen einem Anfang und einem Ende ein System aufbauen zu wollen, sondern das von vielen verschiedenen Orten her sich seinen Weg bahnt, zum einen nicht notwendig asystematisch2 ist, und zum anderen gerade in der beschriebenen Dislozierung die Möglichkeit schafft, dem Sowohl-als-auch von Sagen und Verschweigen in formeller Hinsicht Rechnung zu tragen. Denn ein solches Schreiben nimmt den Leser in die Pflicht, hinter, neben und über dem aktual Gesagten auch immer das mitzudenken, was die Physis der Schrift ihm verweigert. Dem an dieser Stelle zu erwartenden Einwand, daß sich dieser Anspruch an den Leser eines jeglichen systematischen Werkes richtet, sei damit begegnet, daß dies nur insofern Geltung beanspruchen kann, als sich das erwähnte Mitdenken dann nur auf das im Text bereits zur Sprache gekommene erstreckt. D.h. ein Text, der sich unilinear von einem Ursprung aus entfaltet, strahlt seiner Struktur nach den Anschein aus als sei das Spätere allein ein Produkt und Resultat des Vorherigen. Ein solcherart angelegter Text verdunkelt somit, daß das Abhängigkeitsverhältnis hinsichtlich des Verständnisses und der begrifflichen Fülle immer auch umschlägt, mithin von hinten nach vorn das Erstere aus dem Letzteren neu bedeutet wird. Generiert sich ein Textcorpus jedoch als ein Schreiben von unterschiedlichen Orten her um einen auf die eine oder andere Art immer tangierten Problemkreis, so wird damit zum einen gegen den falschen Schein der Sukzessivität angegangen, welche nun nicht mehr als Vehikel der Evidenz auftritt. Zum anderen wird im Aufbrechen der Linearität als der Grundverfassung des Buches, das Ungesagte nicht als das noch zu erwartende, als das Zukünftige folgender Seiten verheißen, sondern das Verschwiegene erfährt eine nicht zu unterschätzende Aufwertung, wenn es als das Nicht-Gesagte nicht mehr im Modus des Noch-Nicht, sondern als das Schon- Nicht dem Gesagten paritätisch zur Seite steht.3 Absenz als Bedingung der Präsenz bleibt somit ständig präsent und umgekehrt gefaßt zeigt sich hier ein Schreiben, das sich der Gewalt der Präsenz entzieht. Damit wird aber nicht einer philosophischen Vorliebe, sondern dem Wesen der Schrift selbst Rechnung getragen. Denn jede Schrift ist aphoristisch. Keine `Logik', keine Vermehrung bindender Lianen kann mit ihrer wesenhaften Diskontinuität und Unwirklichkeit, mit der Genialität des darunter liegenden Schweigens zu Rande kommen. Das Andere wirkt ursprünglich am Sinn mit. Zwischen den Bedeutungen gibt es einen wesenhaften lapsus, [...] Vorzugeben, ihn durch die Erzählung, den philosophischen Diskurs, die Ordnung der Vernunftgründe oder die Deduktion zu reduzieren, heißt die Sprache verkennen und, daß der Bruch selbst die Totalität ist. Das Fragment ist kein bestimmter Stil und kein bestimmtes Scheitern, es ist die Form des Geschriebenen."4
1Die Abwesenheit ist die Erlaubnis, die den Schriftzeichen gewährt wird, sich aufzuzählen und zu bedeuten [...] Die Abwesenheit und die Trennung bezeichnend, lebt das Schriftzeichen als Aphorismus. Es ist Einsamkeit und lebt aus der Einsamkeit. Außerhalb der Differenz wäre es toter Buchstabe; ebenfalls, wenn es mit der Einsamkeit brechen, die Unterbrechung, die Distanz, die Achtung, das Verhältnis zum Anderen, das heißt ein bestimmtes Nicht-Verhältnis, unterbrechen würde." J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, S.112
2Dieser Vorwurf, daß eine nicht explizit dargestellte Systematik synonym dem Nichtvorhandensein einer solchen sei, hat Tradition. Mit ihm wurden immer wieder Diffamierungen gestartet, insbesondere gegen solche Theoretiker, die sich bewußt gegen das Arbeiten in einer für die Rezeption systematisch geschlossenen Form aussprachen. Hier ist etwa an die formal extreme Offenheit der Aphoristiker (Nietzsche, Schlegel) zu denken, die jedoch keineswegs als Index eines nicht vorhandenen zugrundeliegenden Systems verstanden werden darf.
3Heidegger erkennt in dieser Notwendigkeit des nicht" hinsichtlich des Denkens dann auch nicht einen Mangel des je vollzogenen Denkens, sondern sieht hierin allein die aktuale Nichtvollzogenheit dieses Denkens. Das Ungedachte in einem Denken ist nicht ein Mangel, der dem Gedachten anhaftet. Das Un-Gedachte ist je nur als das Un-gedachte." M. Heidegger: Was heißt Denken? Tübingen 31971, S.72. Hervorhebung im Original.
4J. Derrida: a.a.O., S.111. Hervorhebung im Original.
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