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1.3 Das abwesende Zentrum als Strukturprinzip polylinearen Schreibens


Ist das Nicht-Gesagte nun nicht mehr länger das in der Zukunft projektierte, sondern als das aus der Vorzeitigkeit her präformierende, oder wie Derrida sagen würde: das aus der Gleichzeitigkeit con-formierende gerechtfertigt, wird im selben Moment auch jegliche Werthierarchie der Begriffe und Sätze innerhalb des Argumentationsverlaufes hinfällig. Dies gleichgültig ob man dem Ende als Gipfelpunkt und Essenz den höchsten Wert beimißt oder sich den umgekehrten Standpunkt zu eigenmacht, nach dem das eigentlich wertvolle in den basalen Prämissen zu finden ist, aus denen alles Folgende sich ja zwangsläufig ergibt. Polylineares Schreiben, wenn dieser Ausdruck gestattet sei, zerstört seiner Struktur nach ein Denken solcher Hierarchien, indem es als ein Anarbeiten gegen die in der Realisation des Textes implizit angelegte Monodirektionalität auftritt. Nicht dihairetische Pyramidalordnung der Valenzen - gleichgültig, ob von oben nach unten oder umgekehrt gelesen -, sondern durch die Vielschichtigkeit der Interdependenzen generierte Nebenordnung, die das eine nur im Zusammenspiel mit dem anderen legitimiert und erklärt et vice versa. Polylineares Schreiben erweist sich somit als ein vernetztes Schreiben oder besser als ein Schreiben des Netzes, das sich ganz nach dem Bild der Spinne von Ort zu Ort, von einem Anknüpfungspunkt zum nächsten, einer nicht sichtbaren Ordnung folgend um ein Zentrum webt.

Ein Zentrum jedoch, das allein dadurch Realität hat, daß es nicht Netz ist, ein Zentrum also dessen Stelle sich gerade an, aus und in seiner Nicht-Existenz erkennen läßt. Denn das Zentrum ist das nicht Vorhandene, das aus dem Nichts heraus den Gang des Diskurses, das Weben am Netz lenkt. Solcherart ist der Begriff des Zentrums paradoxal, insofern es einerseits innerhalb des Ganzen liegt, andererseits jedoch gerade als dessen Nicht dem Netz nicht zugehört. Läßt sich diese Antinomie produktiv aufheben in die strukturelle Analogie der sich wechselseitig bedingenden Präsenz und Absenz, oder muß das Konzept des Zentrums ganz fallen gelassen werden? Die Frage nach dem Zentrum, in der Manfred Frank die von Strukturalismus und Neo-Strukturalismus erblickt1 ist am Ende die Frage nach dem Subjekt. Denn wenn das Netz sich um ein Zentrum spinnt, aber nicht von diesem Zentrum gewoben wird, so heißt dies nichts anderes, als daß die Struktur des Netzes sich aus sich selber schöpft. Eine sich selbst strukturierende Struktur aber bedarf dann keines Zentrums mehr, und insofern alle Namen für Begründung, Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer Präsenz [...] bezeichnet haben"2, wird das letzte Bezugsterrain einer solchen Präsenz, das transzendentale Signifikat, das Subjekt selbst hinfällig. Es gibt diesen Bezugspunkt nicht in positiv angebbarer Weise, was soviel bedeutet, als daß das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, das es keinen natürlichen Ort besitzt, daß es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt."3 Damit aber, daß der lenkende Mittelpunkt, die als eidos, arche, telos, energeia oder ousia auftretende Präsenz4 dethronisiert wird, wird das Spiel der Zeichen zum Diskurs, das heißt zum System, in dem das zentrale, originäre oder transzendentale Signifikat niemals absolut, außerhalb eines Systems von Differenzen, präsent ist."5 Eine solche Struktur aber, die ohne ein festes Zentrum zu hypostasieren, sich vehement einer Reduktion auf die Präsenz entzieht, stellt für das gegenwärtige Bewußtsein weitestgehend das Undenkbare selbst dar."6 Denn: Die eigentümliche Abwesenheit des Subjekts der Schrift ist auch die Abwesenheit der Sache oder des Referenten."7 Es ist dies das Undenkbare und das Ärgernis, mit dem auch Heidegger ringt, wenn er die Sprache vom menschlichen Sprechen8 emanzipiert: Die Sprache ist in ihrem Wesen weder Ausdruck noch eine Betätigung des Menschen."9

Die Sprache dem Menschen entzogen, der Diskurs als Entmachtung des souveränen zoon logon echon, arbeitet somit auf einer weiteren Ebene dem Schema der Hierarchisierung entgegen, das bereits durch die Polylinearität innerhalb der Textkonstitution seine Vorherrschaft einbüßte. Denn die Basis des klassisch-metaphysischen Denkens: eine Opposition metaphysischer Begriffe (zum Beispiel, Sprechakt/Schrift, Anwesenheit/Abwesenheit usw.) ist nie die Gegenüberstellung zweier Termini, sondern eine Hierarchie und die Ordnung einer Subordination", kann nun nicht mehr aufrechterhalten werden. Präsenz und Absenz stehen in vollkommener Gleichursprünglichkeit und wechselseitiger Bedingtheit nebeneinander, womit die Abwesenheit aus ihrer untergeordneten Rolle, als reiner Mangel verstanden, befreit ist. Anarbeiten gegen das Dogma der Präsenz, gegen den Primat des Seins, das alles unter sich begräbt, ist ein schmerzhafter Prozeß, insofern das Reflexionszentrum, das Subjekt selbst mit in diesen Strudel gezogen wird. Günther, der diesen Abschied vom Subjekt vollzieht, kann daher schreiben: das Universum `denkt' in aristotelischen Kategorien nur dort, wo es sich um Totes handelt. Es ist der Tod, den der Mensch in sich fühlt und dem er nicht entfliehen kann, es sei denn, er gibt sich selbst auf. Aber diese Selbstaufgabe, die, wissenschaftstheoretisch gesprochen, den Übergang zu einer transklassischen Logik bedeutet, scheint ein zu hoher Preis zu sein, und deshalb klammert sich die gegenwärtige Philosophie noch immer verzweifelt an die aristotelische Logik."10

An dieser Stelle nun wird deutlich, inwiefern die Frage nach dem geeigneten Anfang einer Darstellung Günthers von herausragender Bedeutung ist. Stellte sich diese zunächst aufgrund der Anlage des Güntherschen Textes, so zeigt sich nun, das diese Struktur als äußerlich-formaler Ausdruck einer inhaltlich vollzogenen Dezentrierung verstanden werden muß. Wird das Zentrum eines souverän den Diskurs steuernden Subjekts zu den Akten der Philosophie gelegt, ja wird bei Günther das Subjekt soweit transformiert, das es konzeptionell mit der Tradition nur den Namen gemein hat, dann darf die Form des Textgerüstes nicht dahinter zurückbleiben. So spiegelt auch Idee und Grundriß, obwohl als zusammenhängender Text ediert, das in der Oberflächenstruktur in den Beiträgen deutliche Prinzip der strukturbildenden Struktur wider, die, von keinem außerstrukturalem Prinzip (Subjekt, transzendentales Signifikat) gelenkt oder motiviert, sich als Spiel der Differenzen (Derrida) generiert. Auch hier findet sich Polylinearität als ständiger Aspekt- und Perspektivenwechsel, zwar in das lineare Gesamt des Textes eingebunden, als dessen Subversion aber ununterbrochen virulent.11

1vgl. M. Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt/M 1984, S.76
2J. Deridda: a.a.O., S.424
3ebd.
4vgl. ebd.
5ebd.
6a.a.O., S.422
7J. Deridda: Grammatologie. S.120f.
8Das menschliche Sprechen wird streng von der Sprache unterschieden und ihr als ein subalterner Verhaltensmodus zugeordnet. Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören. Es hört, insofern es dem Geheiß der Stille gehört." M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S.33
9M. Heidegger: a.a.O., S.19
10G. Günther: Beiträge I, S.XII
11Ihrer kompakten Prägnanz wegen soll an dieser Stelle die Ausführung Eva Meyers bzgl. der Polylinearität nicht vorenthalten werden. Mit `Mehrlinigkeit' ist eine zahlentheoretische Konzeption angesprochen, die nicht auf die zeitgenössischen Theorien der Mehrlinigkeit, wie sie etwa als rekursive Wortarithmetik aus der mathematischen Linguistik bekannt sind, zurückgeht. Denn während diese sich durch Gödelisierung auf der Linearität der natürlichen Zahlen abbilden lassen, handelt es sich bei jener um eine primäre, irreduzible Konzeption von Mehrlinigkeit. Da genügt nicht eine geometrische Figur, wie sie sich veranschaulicht in der Linie, aber auch im Kreis und der Spirale, die jeweils auch nur ein Modell der Linie sind. Denn der Kreis, der ein homogenes Feld beschreibt und die Spirale, die ab ihrem Ursprung ihr Telos entrollt, bleiben durch die Eindeutigkeit ihrer Konstruktion und Definition dem Identitätsprinzip unterworfen. Für eine in sich widersprüchliche bzw. dialektische Konzeption jedoch, bedarf es nicht nur einer Figur, sondern einer Vielfalt an Figuren. Ihr einfachstes Modell ist die Mehrlinigkeit." (E. Meyer: Das Phantasma der Selbstgeburt. in: D. Hombach (Hg): ZETA 01 - Zukunft als Gegenwart. Berlin 1982, S.156-190, hier S.187.)


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