Nominalisierung und Identifikation
Wenn das vordringliche Ziel jeder Therapie darin besteht, den Klienten in einen Status maximaler Wahlmöglichkeiten zu führen, dann besteht ein Haupthindernis auf diesem Weg sicherlich in der problematischen Überlagerung von Nominalisierung und Identifikation (in Belief-Sätzen). D.h. mit der Verbindung einer pronominalen Prädikation (Ich bin, Du bist, er ist ... ein Trinker, ein Lügner, ein Betrüger) reduziert der Klient sich und/oder andere substantiell auf eine bestimmte Rolle und Funktion, die in dem Maße das Repertoire der Wahlmöglichkeiten einschränkt, in dem die Identifikation mit dem Rollenschema das "In-der-Welt-sein" des Klienten dominiert: Ein Trinker ist, ist immer und überall ein Trinker, und die Welt eines Trinkers, ist eine Welt, in der kein Raum, keine Stelle und kein Zeitpunkt existiert, an dem er nicht als Trinker erscheint. Er kann also gar nichts anderes sein, als eben ein Trinker, und daher ist alles, was er tut, ausweglos das, was ein Trinker tut.
Ein Trinker ist ein Trinker ist ein Trinker!, ließe sich also in Abwandlung des berühmten Wortes von Gertrude Stein formulieren, worin letztdeutlich zum Ausdruck kommt, daß die (Selbst)Zuschreibung eines Identitätssatzes ("A ist X") zwangsläufig in eine existentielle Totalisierung umschlägt. Denn auch wenn der Trinker nicht trinkt, macht ihn dies lange noch nicht zum Nicht-Trinker, sondern nur zu einem gerade nicht trinkenden Trinker.
Nicht zuletzt dieser unumstößliche Absolutheit, dem Bewußtsein also einer identifikatorisch vermittelten Überlagerung von zugeschriebenem (So-)Sein und daraus resultierender Weltkonfiguration, d.h. der ins Universelle gesteigerten Gewißheit, ausweglos einer jeweiligen Existenz zu unterliegen, in der es sich nur noch mit probablen Vermeidungsstrategien einzurichten gilt, dieser (scheinbar) endgültigen Wahrheit, verdankt sich gerade die kathartische Schocktherapie der Anonymen Alkoholiker. Doch wollen wir hier von der philanthropischen Fragwürdigkeit eines solchen "Holzhammers" absehen, und uns statt dessen den semantischen und logischen Fragen zuwenden, die in dieser Mechanik mitschwingen.
Wenn das Zusammenspiel von Identifikation und Nominalisierung zu solch eminenten Welt- und Zustandsbeschreibungen und damit zu konkreten Handlungsdeterminationen führt, dann liegt ein hilfreiches Mittel für eine perspektiveröffnende Regulierung sicherlich in der Entnominalisierung, resp. verbalisierenden Vervollständigung des jeweiligen Attributes: Den Schritt von "Ich bin ein Trinker" zu "Ich trinke soviel, daß mein sozialen Kontakte, meine Arbeitsfähigkeit, meine körperliche und geistige Konstitution einem kontinuierlichen Prozeß der Veränderung/Verarmung ausgesetzt sind." zu vollziehen, ist eine bedeutende Konkretion, die den Beginn einer wirksamen Verhaltensmodifikation einleiten kann.
Und genau hier setzt das klassische NLP an, wenn es versucht, das habituelle Schema im Zuge einer kognitiven Komplettierung zu verändern. Die tiefenstrukturelle Vervollständigung des höchst ungesättigten Ausdrucks "Ich bin ein Trinker." setzt einen Prozeß zunehmender emotional-affektiver Bewußtheit und Auseinandersetzung in Gang, der die Grundlage dafür schafft, daß ein zielorientiertes Gegensteuern einsetzen kann. Erst die größtmögliche Transparenz dafür, was es bedeutet, ein Trinker zu sein, ermöglicht den Aufweis von positiven Handlungsdevianzen, von Ausbruchsmöglichkeiten aus dem existentiellen Schema "Trinker", weil das chunking-down von "Trinker sein." zu "Ich tue dies und jenes." den Horizont aufschließt, "dies und jenes" eben nicht mehr mehr tun zu müssen/wollen/dürfen.
Die klassische Logik als methodische Limitierung des NLP
Das alles ist hinlänglich bekannt und die Mechanik der Entnominalisierung ist seit Bandler/Grinder (Magie 1) längst und vollkommen zu Recht ein erfolgreiches Werkzeug in der alltäglichen Therapie-Praxis. Wenn wir aber nun - und dieses "aber" ist die Motivation des vorliegenden Textes - wenn wir also nun an die Ausgangssituation erinnern, dann scheint es, als reduziere sich klassisches NLP in diesem Zusammenhang ganz unnötig auf eine einzige Strategie. Die Doppelung von Nominalisierung und Identifikation hatten wir als Struktur des Satzes "Ich bin ein Trinker." beschrieben, und wir können den Ansatzpunkt der Entnominalisierung nun als einen - aber eben nur einen Ansatzpunkt zur Veränderung befassen. Unsere Frage richtet sich dann an die zweite Komponente: Was geschieht mit der Identifikation?
"Ich bin, Du bist, er ist ein ... X" - Wir wollen die interventionale Möglichkeit einer Vervollständigung dieser über Nominalisierung verkürzten Oberflächenstruktur also explizit außer Acht lassen; nicht das "X" soll im Zentrum stehen, sondern der Mechanismus, der es ermöglicht, "X" als Attribut zu verwenden.
In leicht formalisierter Schreibweise ließe sich _ die prädikatenlogisch versierten Leser mögen es nachsehen - übersetzen:
«Es gibt ein A [Ich, Du, Er, ...], für das gilt: es ist X.»
Damit nun dieser Satz sinnvoll, konsistent und wiederholbar ausgesagt werden kann, schaltet die Logik einige Sicherungsmaßnahme vor, die die Zuordnung des Prädikates "X" zu seinem Argument "A" gewährleisten
- A ist identisch mit A.
- Es ist verboten, daß A und zugleich (nicht-A) gilt.
- Entweder gilt A oder nicht-A.
Mit diesen Basissätzen - es sind die Sätze der Identität, des verbotenen Widerspruchs sowie der Satz vom ausgeschlossenen Dritten - kanonisiert Aristoteles in seiner Metaphysik das Grundsatzprogramm einer Logik, die bis heute nahezu ungebrochen das vernünftige Denken des Abendlandes regiert: die Aristotelische oder klassische Logik, also unsere Logik. Und selbstverständlich ist dieses Grundsatzprogramm umfassend genug, daß nicht nur Identitätsaussagen darunter fallen ("Ich bin ich, und nicht zugleich jemand anderes, denn entweder bin ich ich oder jemand anderes."), sondern daß auch die regelgerechte Zuschreibung von Eigenschaften und Attributen von dieser Axiomatik gewährleistet wird.
Wir können also ersetzen:
- X ist identisch mit X. (Schwanger zu sein bedeutet uns immer das selbe.)
- Es ist verboten, daß X und zugleich (nicht-X) gilt. (Man kann nicht schwanger und zugleich nicht-schwanger sein.)
- Entweder gilt X oder nicht X. (Entweder man ist schwanger, oder man ist nicht-schwanger; ein Drittes ist ausgeschlossen.)
Dieses zugegeben sehr suggestive Beispiel verdeutlicht sehr schön die Organisationsprinzipien der klassischen, zweiwertigen Logik: Geltung oder Nicht-Geltung, Position oder Negation spannen als exklusiv zu beziehende Werte den Gesamtrahmen der Entscheidungsmöglichkeiten auf.
Die Grenzen der klassischen Logik
Was aber ändert sich, wenn wir "schwanger" durch einen anderen Begriff ersetzen? Die Gültigkeit der logischen Axiome dürfte an einer solche Einsetzung keinen Schaden nehmen - sonst stünde es schlecht um ihre axiomatische Funktion.
Ein Beispiel:
Stellen wir uns eine Autobahn vor, die die beiden Großstädte A und B verbindet. Die Bewohner von A und B werden die Trasse gewiß als "verbindend" bezeichnen. Gleichzeitig liegen aber rechts und links zur Autobahn die beiden Dörfer Y und Z, seit alters her durch einen kleinen Feldweg verbunden, der nun der neuen Straße zum Opfer gefallen ist. Mit welchem Prädikat belegen die Dorfbewohner die Autobahn, die ihre gewohnte Verbindung unterbrochen hat? "Nicht-verbindend", "trennend" scheint im ihrem Kontext wohl passender.
Ein und das selbe Argument (die Autobahn) kann also mit gleichem Fug und Recht vollkommen konträr attribuiert werden, ohne daß das Urteil der anderen dadurch falsch wäre. Es kommt eben auf den Standpunkt an, oder: alles ist relativ!
Verallgemeinert läßt sich dieser Mechanismus der gleichberechtigten Gültigkeit widersprechender Aussagen für alle Prädikationen und Attribuierungen feststellen, in denen sich die Abhängigkeit von einem jeweiligen Standpunkt widerspiegelt. Ob ich auf der rechten oder linken Straßenseite gehe, hängt nicht von einer ultimativen Definition der Begriffe "rechts" und "links" ab, sondern von meinem gegenwärtigen Standpunkt relativ zu meinem Bezugssystem; und analog gilt dies für "groß - klein", "hoch -tief", "alt - jung" etc.
Reflexionsbestimmunen und Seinsbestimmungen
Den besonderen Charakter, daß in der Ansetzung des Begriffs sich die Position des Setzenden widerspiegelt, hat Hegel treffend in der Unterscheidung von Reflexionsbestimmungen (s. o.) und Seinsbestimmungen festgehalten. Ob ich etwas als einen Baum identifiziere, ist von meinem Standpunkt vollkommen unabhängig, ob ich ihn allerdings als groß oder klein, schön oder häßlich, nah oder fern bestimme nicht.
Reflexionsbestimmungen also tragen aufgrund ihrer Standpunktvarianz immer ein relatives Moment ins sich, ja sie lassen sich generell als Prädikationen begreifen, die implizit immer ihr eigenes Gegenteil transportieren, die sich sinnvoll nur aussagen lassen auf dem Hintergrund ihrer eigenen Negation: was "groß" ist, kann ich nur so benennen, wenn ich weiß was "klein" bedeutet, usw. D.h. der Sinn und Gehalt eines Reflexionsbegriffes verdankt sich per se der Doppelung von Position und Negation, genauer, er erwächst nicht in der Identität des Begriff, sondern in der Differenz des Begriff zu sich selbst. Begriffsbestimmend wird hier die Unterscheidung und der Unterschied, der positive Sinn knüpft sich an das höchst schwierig zu fassende Ereignis der Differenzierung, an die nicht mehr positiv zu beschreibende différance (Derrida), und die "Information läßt sich definieren als ein Unterschied, der einen Unterschied macht." (Bateson)
Die Dialektik der Reflexion im Bild des Chiasmus'
Daß das Eine sich nur von dem Anderen her denken läßt, daß Sinn mithin ein proportionales Geschehen ist, ist dabei keine Erfindung fragwürdiger Dekonstruktivisten, sondern ein durchaus altes Wissen. Schon bei Heraklit lesen wir:
"Das Kalte wird warm, Warmes kalt,
Feuchtes trocken, Trockenes feucht."
Es ist einer der ältesten uns überlieferte Chiasmen, und gegen den Eindruck, hier sei allein eine Veränderung in der Zeit gemeint, mag ein Satz Giordano Brunos die oppositionelle Funktion chiastischer Strukturen verdeutlichen. "Gewiß", schreibt Bruno, "wenn wir recht überlegen, sehen wir, daß die Vernichtung nichts anderes ist als eine Erzeugung, und die Erzeugung nichts anderes als eine Vernichtung. Die Liebe ist am letzten Ende Haß und der Haß Liebe ..."
Hier kommt das Wesen des Chiasmus' deutlich zum Ausdruck, den Günther Schenk in seinem Buch Zur Geschichte der logischen Form als eine Satzfigur beschreibt, bei der die "Grundform des Satzes [...] in der Verknüpfung eines Begriffes A mit einem Begriff B [besteht], der letztere wird von neuem gesetzt und dem ersten, als A verbunden. Der dialektische Gedanke ist dann abgeschlossen, wenn er zum Ausgangspunkt zurückkehrt, im obigen Fall ABBA." Obzwar also die klassischen Rhetoren den Chiasmus als ornatus, als Redeschmuck, zur Wirkungssteigerung der elocutio, dem rednerischen Ausdruck, zuschlagen, scheint strukturell mehr darin angelegt zu sein, als es die Zuordnung in die antike Figurenlehre ahnen läßt.
Dialektik, der etwas aus der Mode gekommene Begriff, klang bei Schenk an, und was dies hier bedeutet, wird noch deutlicher, wenn wir uns die Form des Chiasmus' vor Augen führen. Das "Chi"("c"), der drittletzte Buchstabe des griechischen Alphabets gibt den Namen für "die parallele Überkreuzstellung einander entsprechender antithetischer Satzglieder oder Wörter" (Gert Ueding, Bernd Stinbrink: Grundriß der Rhetorik. S. 308), und vereinigt (anders als das gewöhnlich zu Hinrichtungszwecken gebrauchte rechtwinklige Kreuz) im Bild des Andreas-Kreuzes die Simultaneität von Gegenläufigkeit und wechselseitiger Bedingtheit, von Inversion und Komplexion. "Die Henne legt das Ei" - um an das Paradebeispiel dialektaler Gleichursprünglichkeit zu erinnern - bleibt gedanklich unvollständig ohne die Umkehrung: "Aus dem Ei schlüpft die Henne."
Das transklassische Denken als Antwort auf die Gebrechen der Logik oder: die Polykontexturalität der vielen Logiken
Spätestens hier dann ist die klassische Logik überfordert, denn nun schlägt grundsätzlich jene Mechanik über ihr zusammen, die wir bereits von den Reflexionsbestimmungen her kennen - nun aber bei gänzlich objektiven Tatbeständen, die dem subjektiven Standort enthoben sind. Ursache und Wirkung, die Grundbegriffe westlichen Ursprungs- und Kausalitätsdenkens geraten ins Schwimmen, und vieles spricht dafür, daß die Absolutheit des logischen Systems selbst nicht von diesem dialektischen Wirbel verschont bleibt.
Konsequent hat daher der Philosoph und Kybernetiker Gotthard Günther dann auch die These von der Einheit und homogenen Geschlossenheit der Logik aufgegeben und die Hegelsche Entdeckung der Standpunktabhängigkeit der Reflexionsbestimmung in die Standpunktvielheit der logischen Systeme verallgemeinert. Damit begegnet die vermutlich tiefste Radikalisierung, die der alltäglichen Beobachtung Rechnung trägt, daß ein Eines auch ein Anderes sein kann (vgl. unser Autobahn-Beispiel), und die als Polykontexturalitätstheorie die simultane Gleich-Gültigkeit potentiell unendlich vieler Sinnsysteme/Logiken aufrechterhalten und vermitteln/integrieren will.
Die Konsequenzen im Zusammenhang mit der hier begegnenden Problematik erläutert der führende Theoretiker der polykontexturalen Logik, Rudolf Kaehr: "Was Grund und was Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begründung. Der Wechsel des Standortes regelt den Umtausch von Grund und Begründetem. Es gibt keinen ausgezeichneten Ort der Begründung. Jeder Ort der Begründung ist Grund und Begründetes zugleich. Orte sind untereinander weder gleich noch verschieden; sie sind in ihrer Vielheit geschieden. Für die Begründung eines Ortes ist eine Vielheit von Orten im Spiel. Warum jedoch eine Vielheit von Orten? Diese läßt sich ins Spiel bringen, wenn wir die Möglichkeit der Operativität einer Operation uneingeschränkt gelten lassen."
Was Grund und Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begründung! Wir können Grund und Begründetes ersetzen und mit dieser Substitution gleichzeitig wieder einsetzen in die therapeutischen Kontexte. Ursache und Wirkung, Agent und Reagent, Täter und Opfer bieten sich als Konkretionen an, wenn wir nun die Struktur des Chiasmus' zu einem überraschenden Instrument der Intervention machen, zu einem Instrument, das seinen entscheidenden Hebel an der Identifikation des Klienten ansetzt.
Der Chiasmus im therapeutischen Gespräch
Täter ® Opfer
Ein eindeutiges Identifikationsverhältnis: "Ich bin Täter/Opfer" definiert, ganz gleichgültig an welcher Stelle der Relation ("®") sich der Klient wähnt, eine identitätstheoretisch nicht hintergehbare Zusschreibung; "A = A", "A oder nicht-A", "nicht (A und nicht-A)"!
Hatten wir eingangs davon gesprochen, daß das vordringliche Ziel jeder Therapie darin bestehe, den Klienten in einen Status maximaler Wahlmöglichkeiten zu führen, ein Haupthindernis hierfür jedoch in der Überlagerung von Nominalisierung und Identifikation liege, und hatten wir des weiteren die Hoffnung geäußert, daß neben der Entnominalisierung ein noch unbeschrittener Pfad an der (existentiellen, notwendig universalen) Identifikation ansetzen könnte, dann können wir nunmehr das nächstliegende Ziel der Therapie konkretisieren:
Der Klient soll in jeder Konfliktsituation alle reflexional möglichen Standpunkte intellektuell und emotional erleben
Wie können wir ihn dazu anleiten, und inwieweit kann die chiastische Struktur dies befördern? Das Schema selbst liefert uns folgende Form:
Täter ® Opfer
Opfer ® Täter
Ein Beispiel: Betrachten wir die Möglichkeiten der größtmöglichen reflexionalen Ausschöpfung anhand des Problems Fremdgehen.
Derjenige, der fremdgeht, gilt im allgemeinen als der Täter, da er/sie schließlich etwas tut, wogegen das Opfer, der/die Betrogene, nichts tut, sondern von der Handlung des anderen betroffen ist, also unter den Auswirkungen dieser Handlungen leidet. Die Relation (Täter ® Opfer) drückt also die Handlungsgewalt, das dynamische Gefälle innerhalb der Konfliktsituation aus, wenn eine Person A als Täter identifiziert wird und eine Person B als Opfer.
Die Identifikationen sind also klar und das logische System ließe nach klassischem Zuschnitt keinerlei Verschiebungen oder Transformationen zu. Das aber widerspricht in den allermeisten Fällen nicht nur den möglicherweise nur als Alibi vorgebrachten Rechtfertigungen des Täters ("Das habe ich ja nur getan, weil Du mich dazu getrieben hast."), sondern grundsätzlich auch den Bedingungen der Möglichkeit, sowohl Täter oder Opfer werden zu können. Täter wie Opfer sind wesenhaft aufeinander angewiesen: ohne Betrüger kein Betrogener und umgekehrt. Ist also schon die Rollen-Konstitution nicht aus dem bilateralen Gefüge herauszupräparieren, ohne die wechselseitige funktionale Abhängigkeit zu zerstören, so kann - und dies ist durch die therapeutische Praxis durchaus gedeckt - stärker noch von einer bipolaren Handlungsgewalt gesprochen werden, d.h. das dynamische Gefälle fließt in beide Richtungen. Denn oft läßt sich beobachten, daß auch B der Täter ist, da durch sein/ihr Verhalten A allererst zum Fremdgehen animiert oder gedrängt wurde. Ebenso häufig kann festgehalten werden, daß ein Paar bewußt oder unbewußt vereinbart, wer wann fremdgeht, um ein Problem in der Beziehung zu lösen, bzw. erstmals als solches auf den Tisch zu bringen. Dies entspricht der Relation (Opfer ® Täter), d.h. hier gilt B als der Täter und A als Opfer. Innerhalb des Schemas bedeuten dann die senkrechten Linien die personale Identität von A und B, denn in beiden Beschreibungssystemen sind sie selbstverständlich die gleichen geblieben.
Wichtig hierbei ist nun die Einsicht, daß es sich innerhalb dieser Aspektverdoppelung nicht um einen sukzessiven Rollentausch handelt, den man einnehmen kann oder nicht, sondern um eine zeitgleiche und untrennbare Doppelbesetzung. Dadurch verkompliziert sich das System bis an die Grenze des kognitiven Fassungsvermögens, denn nun begegnen sich A und B nicht nur als Täter und Opfer, bzw. umgekehrt als Opfer und Täter, sondern gleichzeitig auch als Täter und Täter und Opfer und Opfer. Wir verdeutlichen dies anhand der gekreuzten Doppelpfeile, die anzeigen, daß es sich an diesen Stellen um ein Umtauschverhältnis handelt, daß das Täter-sein von A in der oberen Relation austauschbar ist mit Täter-sein von B in der unteren. Gleiches dann für das Opfer-sein.
Eine ausschöpfende Beschreibung dessen, was innerhalb der chiastischen Struktur als Identifikation erscheint, hätte somit folgende Gestalt:
Ich bin Täter und habe ein Opfer und ich bin ein Opfer in der Hand eines Täters, und also bin ich Täter-Opfer und Opfer-Täter und Opfer-Täter und Täter-Opfer und Täter-Täter und Opfer-Opfer und all das bin ich einzeln und für sich und dennoch zugleich und in eins -
und Du bist es auch!
Springen versus Identifikation oder: Im Tanz über Orte gebiert sich die Welt!
Verwirrung aller Orten - Wozu? Hören wir noch einmal, was Kaehr über die Abhängigkeit zwischen Grund und Begründetem von dem jeweils eingenommenen Standort sagt. "Für die Begründung eines Ortes ist eine Vielheit von Orten im Spiel. Warum jedoch eine Vielheit von Orten? Diese läßt sich ins Spiel bringen, wenn wir die Möglichkeit der Operativität einer Operation uneingeschränkt gelten lassen." Wir übersetzen Operativität hier als die grundsätzliche Möglichkeit zum Vollzug einer kognitiven Zuschreibung, und können diese Möglichkeit erst dann als uneingeschränkt akzeptieren, wenn das Ursache-Wirkung-Verhältnis (die Operation) zwischen Täter und Opfer alle möglichen relationalen Verbindungen durchlaufen hat. Umgekehrt aber (noch eine verborgene Dialektik) erwächst nur aus der uneingeschränkten Operativität, also im Vollzug der maximalen Ausschöpfung der Operation die Möglichkeit, den eigenen Standort überhaupt als den eigenen Ort zu generieren, und dies wiederum nur in dem Maße, in dem a) einerseits der andere Ort durch die Setzung des eigenen Ortes (erst) mit gesetzt wird (und umgekehrt), und in dem b) andererseits der eigene Ort sich zugleich in die Vielheit seiner selbst verteilt, um wie in a) simultan die Vielheit der anderen Orte zu eröffnen. Weniger kompliziert beschreibt dies Kaehr: "Erst durch das Beziehungsgefüge wird das Objekt als das bestimmt, als das es im Kontext fungiert. (Es gibt also nicht erst die Brückenpfeiler über die dann die Brücke gespannt wird.)".
Hier dann manifestiert sich eine nicht unerhebliche Transformation des klassischen Weltbildes, was hier zum Ausdruck kommt, ist eine wesentlich andere Sichtweise auf die Dinge, doch brauchen wir nicht voll ausgebildete Philosophen, Metaphysiker, Ontologen, Linguisten oder polykontexturale Logiker zu sein, um fruchtbringend an dem, was Gotthard Günther als transklassische Rationalität uns nahegebracht hat, partizipieren zu können. Es reicht die Erinnerung an das vermutlich berühmteste Statement eines der hervorragendsten Vertreter des klassischen Denkens: "Die Welt ist alles, was der Fall ist.", beginnt Ludwig Wittgenstein seinen Tractatus logico-philosophicus, und wir können fortfahren: "Wenn es also der Fall ist, daß ich die Bestimmung meines Seins nicht vorgegeben in der Welt finde, sondern sie erst im vielfältigen Wechselspiel entstehen, wenn das Ich bin für sich allein nur die Fiktion eines angebbaren Sinnes ist, wenn also das Ich bin mir nur erwächst in der Gleichzeitigkeit des Ich bin auch, Ich bin zugleich, Du bist, Du bist auch, Du bist zugleich, dann ist die Welt nur soweit das, was der Fall ist, wenn ich mit Dir von Fall zu Fall durch die Vielheit der Orte springe."
Hier ist das Springen und der Sprung im Sinne des Wortes Ursprung der Welt, und das In-der-Welt-sein des Klienten wird ungleich sein zu dem, was es davor sein konnte. Es ist eine andere Welt, in der er sich bewegt, und er bewegt sich in der Welt nur, wenn er sich bewegt - wenn er springt.
Wenn einer springt, wer springt denn dann?
Wir wollen nun zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückkehren und die Frage nach der Applikationsfähigkeit des chiastischen Modells einer komplexen, dynamischen Identifikationsmodulierung stellen. Daß wir uns nicht an reinen Glasperlenspielen erfreuen, sollte am Beispiel der für die Paartherapie vorgestellten Intervention bereits deutlich sein, doch stellt sich die Frage nach dem Leistungsvermögen des Schemas für das Individualgespräch. Ist - um konkret zu werden - ist die Chiastik als vielfach verteilte und verknüpfte Struktur transponabel, wenn doch das Relationsgefüge und die damit initiierte wechselseitige Entdeckung von Abhängigkeits-, Koinzidenz- und Umtauschrelationen doch immer zwei Klienten voraussetzt?
Wir antworten mit einer Gegenfrage: Drückt sich die Individualität einer Einzelperson tatsächlich als statischen Einheit aus, die - wenn auch wandelbar - stets als homogener, distinkter, monolithischer Block begegnet? Wohl kaum. Statt dessen sprechen wir immer schon von komplexen Persönlichkeiten, d.h. von einem Zusammenspiel vielschichtiger, disparater, sich verstärkender und antagonistischer Strukturen, die wir zusätzlich noch auf verschiedenen Ebenen, habituell, kognitiv und emotional, unterscheiden.
Wenn es also darum geht, der nach klassischem Denken zwangsläufig statisch und absolut verlaufenden Identifikation, eine Dynamik zu verleihen, die im Zuge dieser Dynamisierung des Ichs zugleich eine helfende und perspektivöffnende Modulation an dem vormals notwendig ebenso statischen Weltbild des Klienten in Gang bringt, dann können wir also immer auf die mitunter von dem Leidensdruck verdeckte Komplexität der Person zurückgreifen.
Zwei Wege und ein Irrweg
- der Irrweg der Negation
Zwei Wege stehen damit im wesentlichen bereit, gegenüber denen sich ein Weg bereits als Irrweg erkennen läßt: Der Chiasmus kann sich nicht negational aufspannen, will sagen: Im Beispiel des Trinkers ist der Antagonist des Protagonisten "Trinker" nicht der "Nicht-Trinker". Dieses Verbot sprechen wir nicht aus, um anzuzeigen, daß die Anonymen Alkoholiker etwa zurecht auf der Einsicht bestehen, "Einmal Trinker, immer Trinker!" Vielmehr handelt sich um die Konsequenzen grundsätzlicher logischer Überlegungen, die damit ihre Gültigkeit unabhängig von der jeweiligen Semantik, von dem konkreten Beispiel beanspruchen:
Wenn das Relationgefüge (Täter ® Opfer) sich zwischen (A ® nicht-A) installiert, gibt es keine Relation zwischen zwei distinkten Teilnehmern, der propositionale Gehalt ist jeweils identisch, das "A" ist in beiden Fällen das gleiche "A", und die Identität von "A" bleibt von der Negation vollkommen unangetastet. Dialektische Gegensätze also etablieren sich nicht zwischen reiner Position und Negation, sind also keine kontradiktorischen Widersprüche (A oder nicht-A; Täter - nicht-Täter, Proletariat - nicht-Proletariat, Subjekt - nicht-Subjekt), sondern gründen als konträre Gegensätze (A oder B; Täter - Opfer, Proletariat - Kapital, Subjekt - Objekt) die ihnen inhärente progressive Entwicklungsmöglichkeit.
Zwei Wege und ein Irrweg
- erster Weg: dicht an der Semantik
Zurück zu unserem Beispiel.
Als erste Möglichkeit auf dieser Basis kann das chiastische Springen seinen Ausgang zunächst von der stark kausal motivierten Relation nehmen. Grund und Begründetes, Ursache und Wirkung liefern dann die Grundlage, auf der Proponent und Opponent das Spiel ihrer wechselweisen Neusituierung beginnen können. Solche Gegenspieler sind im Fall des Trinkers leicht zu finden, sie begegnen im allgemeinen in den Begründungs- und Entschuldigungsstrategien: "Ich bin Trinker, weil ich Arbeitsloser, verlassener Liebhaber, tyrannisierter Ehemann, überforderter Vorstandsvorstandsvorsitzender, bargeldloser Numismatiker, ... bin."
Hier gibt es sicherlich Anknüpfungspunkte, die ohne Probleme einen Dialog initiieren, der in der Paartherapie je als Ausgangsbasis, als der zu Grunde liegende Konflikt, in der Verdoppelung der Wahrnehmungspositionen, resp. in der gegenseitigen Schuldzuweisung schon vorhanden ist. "Du bist der Schuldige, weil Du fremdgegangen bist!" "Nein, wenn Du Dich nicht so verweigern würdest, wäre das alles nicht passiert!" Setzen wir hier analog "Trinker" und "Arbeitsloser" ein, dann wird sich sehr schnell ein komplexes Beziehungsgefüge einstellen, in dem der Klient die alte Identifikation "Trinker" in ihrer Präexistenz hintergehen kann, wenn er, im Hin-und-Her-springen über Abhängigkeiten, Machtgefälle, deren Umkehrungen und Äquivalenzen hinweg, allmählich zu der emotionalen und kognitiven Wahrnehmung gelangen kann, daß er weder im Moment, noch bis ans Ende seiner Tage in der Existenzform "Trinker" aufgehen muß, weil ihm das statische "Ich bin ... " buchstäblich in den Händen zerrinnt. Hier bricht mit der Dynamisierung seines (So- und In-)Seins zugleich auch die diesbezügliche Welt in ihrer bisherige Gestalt zusammen, das In-der-Welt-sein kann sich reformulieren.
Zwei Wege und Irrweg
- zweiter Weg: die Konfrontation mit der Struktur
Der andere Weg, den Chiasmus als Interventionsmöglichkeit zu instrumentalisieren, verläßt nun auch noch die semantische Fundierung, die für den kausalen Begründsszusammenhang der Täter-Opfer-Relation notwendig ist. Statt dessen wird versucht, ein rein strukturelles Beziehungsgeflecht zu installieren, in dem die inhaltlichen Aspekte/Anknüpfungen nur noch eine propädeutische Rolle spielen. Hier werden dann nicht nur die Agenten/Reagenten von der unmittelbaren Problematik abgelöst, sondern auch die Spezifik der Relation (bislang also Kausalität) wird aufgelöst.
Etwa:
"Ich bin Trinker aber Vater
und Rosenzüchter
auch Ernährer
deswegen Sohn
obwohl Zwangsneurotiker
indem Ehemann
wenn Pedant
zugleich Urlaubsjunky
weil Liebhaber
obgleich Bastler
nachdem Tagträumer
da Arbeitsloser
... ..."
Innerhalb dieser Kombinatorik, denn es handelt sich nicht um eine lineare Reihung, innerhalb dieser beliebigen Kombinationsmöglichkeit also entsteht ein Strukturzusammenhang, der die inhaltliche Füllung immer stärker ausdünnt, der im Idealfall seinen "Aha-Effekt" gerade nicht aus der überraschenden Einsicht bezieht "Ja, stimmt, das bin ich auch. So habe ich mich noch nicht gesehen.", da damit der semantische Boden noch nicht verlassen ist. Vielmehr geht es darum, im Springen und Durchleben der sprunghaft sich neu gründenden Existenzen eine emotional-kognitive Manifestation davon zu generieren, daß der Einheitsraum "Ich" per se eine vieldimensionale Komplexion unterschiedlichster, konkurrierender, divergierender und indifferenter Aggregatzustände ist, eine Komplexion, die - und das ist entscheidend - nur als Prozeß permanenter Entscheidung, als kontinuierlicher Selbstentwurf vorhanden ist.
Um dies zu verdeutlichen, und aus Gründen erhöhter Praktikabilität, können wir die kombinatorische Liste, wie sie oben als ein mögliches Beispiel aufgeführt ist, nun noch weitergehend komprimieren. Das Ziel wäre dann eine anwenderfreundliche Formel, die in doppelter Funktion einerseits den strukturellen Aspekt erlebbar werden läßt, und die andererseits diese Erlebnisqualität für den Klienten eröffnet, ohne an seine Identifaktion appellieren zu müssen. Eine Möglichkeit dazu scheint uns gegeben zu in der Formel
Ich als A bin X, Y, Z ...
Durch die Wendung Ich als ist der Klient unmittelbar in einen dissoziierten State verwickelt, er identifiziert sich nicht als A ("Ich bin A"), sondern beobachtet/beschreibt sich als A. Ist damit aber der Grundmechanismus der Identifaktion mit einem wie auch immer gefaßten Prädikat erst einmal entkoppelt, dann kann aus dieser Beobachter-Perspektive heraus die Zuschreibung beliebiger Attribute erfolgen. Die Gefahr einer Identifikation mit den Attributen ist hier gebannt, denn es führt kein direkter Weg mehr von Ich hinüber zu bin dies oder jenes.
Ohne an existentialistische Maxime erinnern zu müssen, könnte als Blockade-Lösung und strukturell-perspektivische Neuorientierung dann das Bewußtsein entstehen, daß das jeder Statik beraubte Selbst überhaupt nur als aktualer Vollzug des Zu-sich-selbst-Verhaltens und also nur als permanente Entscheidungssituation besteht. An die Stelle der passiven Identifikation mit einer stereotypen Rollendefinition kann so die Wahrnehmung treten, daß die Rolle, sei es als Agent oder Reagent, allein aus der invers-bilateralen, chiastischen Gleichzeitigkeit von Agent und Reagent erwächst, womit die Exekutiv-Gewalt an der Rollen-Stereotypie immer schon eine verteilte und vermittelte ist. Verteilt und vermittelt über die vier Orte des Chiasmus, die nicht nicht bezogen werden können, die somit selbst das noch all zu statische Ziel unserer Therapie überborden: den Status maximaler Wahlmöglichkeiten.
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