Klaus Grochowiak, Joachim Castella

Der Chiasmus von T�ter und Opfer

In: MultiMind 12/1996, � bei den Autoren

Nominalisierung und Identifikation

Wenn das vordringliche Ziel jeder Therapie darin besteht, den Klienten in einen Status maximaler Wahlm�glichkeiten zu f�hren, dann besteht ein Haupthindernis auf diesem Weg sicherlich in der problematischen �berlagerung von Nominalisierung und Identifikation (in Belief-S�tzen). D.h. mit der Verbindung einer pronominalen Pr�dikation (Ich bin, Du bist, er ist ... ein Trinker, ein L�gner, ein Betr�ger) reduziert der Klient sich und/oder andere substantiell auf eine bestimmte Rolle und Funktion, die in dem Ma�e das Repertoire der Wahlm�glichkeiten einschr�nkt, in dem die Identifikation mit dem Rollenschema das "In-der-Welt-sein" des Klienten dominiert: Ein Trinker ist, ist immer und �berall ein Trinker, und die Welt eines Trinkers, ist eine Welt, in der kein Raum, keine Stelle und kein Zeitpunkt existiert, an dem er nicht als Trinker erscheint. Er kann also gar nichts anderes sein, als eben ein Trinker, und daher ist alles, was er tut, ausweglos das, was ein Trinker tut.

Ein Trinker ist ein Trinker ist ein Trinker!, lie�e sich also in Abwandlung des ber�hmten Wortes von Gertrude Stein formulieren, worin letztdeutlich zum Ausdruck kommt, da� die (Selbst)Zuschreibung eines Identit�tssatzes ("A ist X") zwangsl�ufig in eine existentielle Totalisierung umschl�gt. Denn auch wenn der Trinker nicht trinkt, macht ihn dies lange noch nicht zum Nicht-Trinker, sondern nur zu einem gerade nicht trinkenden Trinker.

Nicht zuletzt dieser unumst��liche Absolutheit, dem Bewu�tsein also einer identifikatorisch vermittelten �berlagerung von zugeschriebenem (So-)Sein und daraus resultierender Weltkonfiguration, d.h. der ins Universelle gesteigerten Gewi�heit, ausweglos einer jeweiligen Existenz zu unterliegen, in der es sich nur noch mit probablen Vermeidungsstrategien einzurichten gilt, dieser (scheinbar) endg�ltigen Wahrheit, verdankt sich gerade die kathartische Schocktherapie der Anonymen Alkoholiker. Doch wollen wir hier von der philanthropischen Fragw�rdigkeit eines solchen "Holzhammers" absehen, und uns statt dessen den semantischen und logischen Fragen zuwenden, die in dieser Mechanik mitschwingen.

Wenn das Zusammenspiel von Identifikation und Nominalisierung zu solch eminenten Welt- und Zustandsbeschreibungen und damit zu konkreten Handlungsdeterminationen f�hrt, dann liegt ein hilfreiches Mittel f�r eine perspektiver�ffnende Regulierung sicherlich in der Entnominalisierung, resp. verbalisierenden Vervollst�ndigung des jeweiligen Attributes: Den Schritt von "Ich bin ein Trinker" zu "Ich trinke soviel, da� mein sozialen Kontakte, meine Arbeitsf�higkeit, meine k�rperliche und geistige Konstitution einem kontinuierlichen Proze� der Ver�nderung/Verarmung ausgesetzt sind." zu vollziehen, ist eine bedeutende Konkretion, die den Beginn einer wirksamen Verhaltensmodifikation einleiten kann.

Und genau hier setzt das klassische NLP an, wenn es versucht, das habituelle Schema im Zuge einer kognitiven Komplettierung zu ver�ndern. Die tiefenstrukturelle Vervollst�ndigung des h�chst unges�ttigten Ausdrucks "Ich bin ein Trinker." setzt einen Proze� zunehmender emotional-affektiver Bewu�theit und Auseinandersetzung in Gang, der die Grundlage daf�r schafft, da� ein zielorientiertes Gegensteuern einsetzen kann. Erst die gr��tm�gliche Transparenz daf�r, was es bedeutet, ein Trinker zu sein, erm�glicht den Aufweis von positiven Handlungsdevianzen, von Ausbruchsm�glichkeiten aus dem existentiellen Schema "Trinker", weil das chunking-down von "Trinker sein." zu "Ich tue dies und jenes." den Horizont aufschlie�t, "dies und jenes" eben nicht mehr mehr tun zu m�ssen/wollen/d�rfen.

Die klassische Logik als methodische Limitierung des NLP

Das alles ist hinl�nglich bekannt und die Mechanik der Entnominalisierung ist seit Bandler/Grinder (Magie 1) l�ngst und vollkommen zu Recht ein erfolgreiches Werkzeug in der allt�glichen Therapie-Praxis. Wenn wir aber nun - und dieses "aber" ist die Motivation des vorliegenden Textes - wenn wir also nun an die Ausgangssituation erinnern, dann scheint es, als reduziere sich klassisches NLP in diesem Zusammenhang ganz unn�tig auf eine einzige Strategie. Die Doppelung von Nominalisierung und Identifikation hatten wir als Struktur des Satzes "Ich bin ein Trinker." beschrieben, und wir k�nnen den Ansatzpunkt der Entnominalisierung nun als einen - aber eben nur einen Ansatzpunkt zur Ver�nderung befassen. Unsere Frage richtet sich dann an die zweite Komponente: Was geschieht mit der Identifikation?

"Ich bin, Du bist, er ist ein ... X" - Wir wollen die interventionale M�glichkeit einer Vervollst�ndigung dieser �ber Nominalisierung verk�rzten Oberfl�chenstruktur also explizit au�er Acht lassen; nicht das "X" soll im Zentrum stehen, sondern der Mechanismus, der es erm�glicht, "X" als Attribut zu verwenden.

In leicht formalisierter Schreibweise lie�e sich _ die pr�dikatenlogisch versierten Leser m�gen es nachsehen - �bersetzen:

�Es gibt ein A [Ich, Du, Er, ...], f�r das gilt: es ist X.�

Damit nun dieser Satz sinnvoll, konsistent und wiederholbar ausgesagt werden kann, schaltet die Logik einige Sicherungsma�nahme vor, die die Zuordnung des Pr�dikates "X" zu seinem Argument "A" gew�hrleisten

- A ist identisch mit A.

- Es ist verboten, da� A und zugleich (nicht-A) gilt.

- Entweder gilt A oder nicht-A.

Mit diesen Basiss�tzen - es sind die S�tze der Identit�t, des verbotenen Widerspruchs sowie der Satz vom ausgeschlossenen Dritten - kanonisiert Aristoteles in seiner Metaphysik das Grundsatzprogramm einer Logik, die bis heute nahezu ungebrochen das vern�nftige Denken des Abendlandes regiert: die Aristotelische oder klassische Logik, also unsere Logik. Und selbstverst�ndlich ist dieses Grundsatzprogramm umfassend genug, da� nicht nur Identit�tsaussagen darunter fallen ("Ich bin ich, und nicht zugleich jemand anderes, denn entweder bin ich ich oder jemand anderes."), sondern da� auch die regelgerechte Zuschreibung von Eigenschaften und Attributen von dieser Axiomatik gew�hrleistet wird.

Wir k�nnen also ersetzen:

- X ist identisch mit X. (Schwanger zu sein bedeutet uns immer das selbe.)

- Es ist verboten, da� X und zugleich (nicht-X) gilt. (Man kann nicht schwanger und zugleich nicht-schwanger sein.)

- Entweder gilt X oder nicht X. (Entweder man ist schwanger, oder man ist nicht-schwanger; ein Drittes ist ausgeschlossen.)

Dieses zugegeben sehr suggestive Beispiel verdeutlicht sehr sch�n die Organisationsprinzipien der klassischen, zweiwertigen Logik: Geltung oder Nicht-Geltung, Position oder Negation spannen als exklusiv zu beziehende Werte den Gesamtrahmen der Entscheidungsm�glichkeiten auf.

Die Grenzen der klassischen Logik

Was aber �ndert sich, wenn wir "schwanger" durch einen anderen Begriff ersetzen? Die G�ltigkeit der logischen Axiome d�rfte an einer solche Einsetzung keinen Schaden nehmen - sonst st�nde es schlecht um ihre axiomatische Funktion.

Ein Beispiel:

Stellen wir uns eine Autobahn vor, die die beiden Gro�st�dte A und B verbindet. Die Bewohner von A und B werden die Trasse gewi� als "verbindend" bezeichnen. Gleichzeitig liegen aber rechts und links zur Autobahn die beiden D�rfer Y und Z, seit alters her durch einen kleinen Feldweg verbunden, der nun der neuen Stra�e zum Opfer gefallen ist. Mit welchem Pr�dikat belegen die Dorfbewohner die Autobahn, die ihre gewohnte Verbindung unterbrochen hat? "Nicht-verbindend", "trennend" scheint im ihrem Kontext wohl passender.

Ein und das selbe Argument (die Autobahn) kann also mit gleichem Fug und Recht vollkommen kontr�r attribuiert werden, ohne da� das Urteil der anderen dadurch falsch w�re. Es kommt eben auf den Standpunkt an, oder: alles ist relativ!

Verallgemeinert l��t sich dieser Mechanismus der gleichberechtigten G�ltigkeit widersprechender Aussagen f�r alle Pr�dikationen und Attribuierungen feststellen, in denen sich die Abh�ngigkeit von einem jeweiligen Standpunkt widerspiegelt. Ob ich auf der rechten oder linken Stra�enseite gehe, h�ngt nicht von einer ultimativen Definition der Begriffe "rechts" und "links" ab, sondern von meinem gegenw�rtigen Standpunkt relativ zu meinem Bezugssystem; und analog gilt dies f�r "gro� - klein", "hoch -tief", "alt - jung" etc.

Reflexionsbestimmunen und Seinsbestimmungen

Den besonderen Charakter, da� in der Ansetzung des Begriffs sich die Position des Setzenden widerspiegelt, hat Hegel treffend in der Unterscheidung von Reflexionsbestimmungen (s. o.) und Seinsbestimmungen festgehalten. Ob ich etwas als einen Baum identifiziere, ist von meinem Standpunkt vollkommen unabh�ngig, ob ich ihn allerdings als gro� oder klein, sch�n oder h��lich, nah oder fern bestimme nicht.

Reflexionsbestimmungen also tragen aufgrund ihrer Standpunktvarianz immer ein relatives Moment ins sich, ja sie lassen sich generell als Pr�dikationen begreifen, die implizit immer ihr eigenes Gegenteil transportieren, die sich sinnvoll nur aussagen lassen auf dem Hintergrund ihrer eigenen Negation: was "gro�" ist, kann ich nur so benennen, wenn ich wei� was "klein" bedeutet, usw. D.h. der Sinn und Gehalt eines Reflexionsbegriffes verdankt sich per se der Doppelung von Position und Negation, genauer, er erw�chst nicht in der Identit�t des Begriff, sondern in der Differenz des Begriff zu sich selbst. Begriffsbestimmend wird hier die Unterscheidung und der Unterschied, der positive Sinn kn�pft sich an das h�chst schwierig zu fassende Ereignis der Differenzierung, an die nicht mehr positiv zu beschreibende diff�rance (Derrida), und die "Information l��t sich definieren als ein Unterschied, der einen Unterschied macht." (Bateson)

Die Dialektik der Reflexion im Bild des Chiasmus'

Da� das Eine sich nur von dem Anderen her denken l��t, da� Sinn mithin ein proportionales Geschehen ist, ist dabei keine Erfindung fragw�rdiger Dekonstruktivisten, sondern ein durchaus altes Wissen. Schon bei Heraklit lesen wir:

"Das Kalte wird warm, Warmes kalt,

Feuchtes trocken, Trockenes feucht."

Es ist einer der �ltesten uns �berlieferte Chiasmen, und gegen den Eindruck, hier sei allein eine Ver�nderung in der Zeit gemeint, mag ein Satz Giordano Brunos die oppositionelle Funktion chiastischer Strukturen verdeutlichen. "Gewi�", schreibt Bruno, "wenn wir recht �berlegen, sehen wir, da� die Vernichtung nichts anderes ist als eine Erzeugung, und die Erzeugung nichts anderes als eine Vernichtung. Die Liebe ist am letzten Ende Ha� und der Ha� Liebe ..."

Hier kommt das Wesen des Chiasmus' deutlich zum Ausdruck, den G�nther Schenk in seinem Buch Zur Geschichte der logischen Form als eine Satzfigur beschreibt, bei der die "Grundform des Satzes [...] in der Verkn�pfung eines Begriffes A mit einem Begriff B [besteht], der letztere wird von neuem gesetzt und dem ersten, als A verbunden. Der dialektische Gedanke ist dann abgeschlossen, wenn er zum Ausgangspunkt zur�ckkehrt, im obigen Fall ABBA." Obzwar also die klassischen Rhetoren den Chiasmus als ornatus, als Redeschmuck, zur Wirkungssteigerung der elocutio, dem rednerischen Ausdruck, zuschlagen, scheint strukturell mehr darin angelegt zu sein, als es die Zuordnung in die antike Figurenlehre ahnen l��t.

Dialektik, der etwas aus der Mode gekommene Begriff, klang bei Schenk an, und was dies hier bedeutet, wird noch deutlicher, wenn wir uns die Form des Chiasmus' vor Augen f�hren. Das "Chi"("c"), der drittletzte Buchstabe des griechischen Alphabets gibt den Namen f�r "die parallele �berkreuzstellung einander entsprechender antithetischer Satzglieder oder W�rter" (Gert Ueding, Bernd Stinbrink: Grundri� der Rhetorik. S. 308), und vereinigt (anders als das gew�hnlich zu Hinrichtungszwecken gebrauchte rechtwinklige Kreuz) im Bild des Andreas-Kreuzes die Simultaneit�t von Gegenl�ufigkeit und wechselseitiger Bedingtheit, von Inversion und Komplexion. "Die Henne legt das Ei" - um an das Paradebeispiel dialektaler Gleichurspr�nglichkeit zu erinnern - bleibt gedanklich unvollst�ndig ohne die Umkehrung: "Aus dem Ei schl�pft die Henne."

Das transklassische Denken als Antwort auf die Gebrechen der Logik oder: die Polykontexturalit�t der vielen Logiken

Sp�testens hier dann ist die klassische Logik �berfordert, denn nun schl�gt grunds�tzlich jene Mechanik �ber ihr zusammen, die wir bereits von den Reflexionsbestimmungen her kennen - nun aber bei g�nzlich objektiven Tatbest�nden, die dem subjektiven Standort enthoben sind. Ursache und Wirkung, die Grundbegriffe westlichen Ursprungs- und Kausalit�tsdenkens geraten ins Schwimmen, und vieles spricht daf�r, da� die Absolutheit des logischen Systems selbst nicht von diesem dialektischen Wirbel verschont bleibt.

Konsequent hat daher der Philosoph und Kybernetiker Gotthard G�nther dann auch die These von der Einheit und homogenen Geschlossenheit der Logik aufgegeben und die Hegelsche Entdeckung der Standpunktabh�ngigkeit der Reflexionsbestimmung in die Standpunktvielheit der logischen Systeme verallgemeinert. Damit begegnet die vermutlich tiefste Radikalisierung, die der allt�glichen Beobachtung Rechnung tr�gt, da� ein Eines auch ein Anderes sein kann (vgl. unser Autobahn-Beispiel), und die als Polykontexturalit�tstheorie die simultane Gleich-G�ltigkeit potentiell unendlich vieler Sinnsysteme/Logiken aufrechterhalten und vermitteln/integrieren will.

Die Konsequenzen im Zusammenhang mit der hier begegnenden Problematik erl�utert der f�hrende Theoretiker der polykontexturalen Logik, Rudolf Kaehr: "Was Grund und was Begr�ndetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begr�ndung. Der Wechsel des Standortes regelt den Umtausch von Grund und Begr�ndetem. Es gibt keinen ausgezeichneten Ort der Begr�ndung. Jeder Ort der Begr�ndung ist Grund und Begr�ndetes zugleich. Orte sind untereinander weder gleich noch verschieden; sie sind in ihrer Vielheit geschieden. F�r die Begr�ndung eines Ortes ist eine Vielheit von Orten im Spiel. Warum jedoch eine Vielheit von Orten? Diese l��t sich ins Spiel bringen, wenn wir die M�glichkeit der Operativit�t einer Operation uneingeschr�nkt gelten lassen."

Was Grund und Begr�ndetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begr�ndung! Wir k�nnen Grund und Begr�ndetes ersetzen und mit dieser Substitution gleichzeitig wieder einsetzen in die therapeutischen Kontexte. Ursache und Wirkung, Agent und Reagent, T�ter und Opfer bieten sich als Konkretionen an, wenn wir nun die Struktur des Chiasmus' zu einem �berraschenden Instrument der Intervention machen, zu einem Instrument, das seinen entscheidenden Hebel an der Identifikation des Klienten ansetzt.

Der Chiasmus im therapeutischen Gespr�ch

T�ter � Opfer

Ein eindeutiges Identifikationsverh�ltnis: "Ich bin T�ter/Opfer" definiert, ganz gleichg�ltig an welcher Stelle der Relation ("�") sich der Klient w�hnt, eine identit�tstheoretisch nicht hintergehbare Zusschreibung; "A = A", "A oder nicht-A", "nicht (A und nicht-A)"!

Hatten wir eingangs davon gesprochen, da� das vordringliche Ziel jeder Therapie darin bestehe, den Klienten in einen Status maximaler Wahlm�glichkeiten zu f�hren, ein Haupthindernis hierf�r jedoch in der �berlagerung von Nominalisierung und Identifikation liege, und hatten wir des weiteren die Hoffnung ge�u�ert, da� neben der Entnominalisierung ein noch unbeschrittener Pfad an der (existentiellen, notwendig universalen) Identifikation ansetzen k�nnte, dann k�nnen wir nunmehr das n�chstliegende Ziel der Therapie konkretisieren:

Der Klient soll in jeder Konfliktsituation alle reflexional m�glichen Standpunkte intellektuell und emotional erleben

Wie k�nnen wir ihn dazu anleiten, und inwieweit kann die chiastische Struktur dies bef�rdern? Das Schema selbst liefert uns folgende Form:

T�ter � Opfer

Opfer � T�ter

Ein Beispiel: Betrachten wir die M�glichkeiten der gr��tm�glichen reflexionalen Aussch�pfung anhand des Problems Fremdgehen.

Derjenige, der fremdgeht, gilt im allgemeinen als der T�ter, da er/sie schlie�lich etwas tut, wogegen das Opfer, der/die Betrogene, nichts tut, sondern von der Handlung des anderen betroffen ist, also unter den Auswirkungen dieser Handlungen leidet. Die Relation (T�ter � Opfer) dr�ckt also die Handlungsgewalt, das dynamische Gef�lle innerhalb der Konfliktsituation aus, wenn eine Person A als T�ter identifiziert wird und eine Person B als Opfer.

Die Identifikationen sind also klar und das logische System lie�e nach klassischem Zuschnitt keinerlei Verschiebungen oder Transformationen zu. Das aber widerspricht in den allermeisten F�llen nicht nur den m�glicherweise nur als Alibi vorgebrachten Rechtfertigungen des T�ters ("Das habe ich ja nur getan, weil Du mich dazu getrieben hast."), sondern grunds�tzlich auch den Bedingungen der M�glichkeit, sowohl T�ter oder Opfer werden zu k�nnen. T�ter wie Opfer sind wesenhaft aufeinander angewiesen: ohne Betr�ger kein Betrogener und umgekehrt. Ist also schon die Rollen-Konstitution nicht aus dem bilateralen Gef�ge herauszupr�parieren, ohne die wechselseitige funktionale Abh�ngigkeit zu zerst�ren, so kann - und dies ist durch die therapeutische Praxis durchaus gedeckt - st�rker noch von einer bipolaren Handlungsgewalt gesprochen werden, d.h. das dynamische Gef�lle flie�t in beide Richtungen. Denn oft l��t sich beobachten, da� auch B der T�ter ist, da durch sein/ihr Verhalten A allererst zum Fremdgehen animiert oder gedr�ngt wurde. Ebenso h�ufig kann festgehalten werden, da� ein Paar bewu�t oder unbewu�t vereinbart, wer wann fremdgeht, um ein Problem in der Beziehung zu l�sen, bzw. erstmals als solches auf den Tisch zu bringen. Dies entspricht der Relation (Opfer � T�ter), d.h. hier gilt B als der T�ter und A als Opfer. Innerhalb des Schemas bedeuten dann die senkrechten Linien die personale Identit�t von A und B, denn in beiden Beschreibungssystemen sind sie selbstverst�ndlich die gleichen geblieben.

Wichtig hierbei ist nun die Einsicht, da� es sich innerhalb dieser Aspektverdoppelung nicht um einen sukzessiven Rollentausch handelt, den man einnehmen kann oder nicht, sondern um eine zeitgleiche und untrennbare Doppelbesetzung. Dadurch verkompliziert sich das System bis an die Grenze des kognitiven Fassungsverm�gens, denn nun begegnen sich A und B nicht nur als T�ter und Opfer, bzw. umgekehrt als Opfer und T�ter, sondern gleichzeitig auch als T�ter und T�ter und Opfer und Opfer. Wir verdeutlichen dies anhand der gekreuzten Doppelpfeile, die anzeigen, da� es sich an diesen Stellen um ein Umtauschverh�ltnis handelt, da� das T�ter-sein von A in der oberen Relation austauschbar ist mit T�ter-sein von B in der unteren. Gleiches dann f�r das Opfer-sein.

Eine aussch�pfende Beschreibung dessen, was innerhalb der chiastischen Struktur als Identifikation erscheint, h�tte somit folgende Gestalt:

Ich bin T�ter und habe ein Opfer und ich bin ein Opfer in der Hand eines T�ters, und also bin ich T�ter-Opfer und Opfer-T�ter und Opfer-T�ter und T�ter-Opfer und T�ter-T�ter und Opfer-Opfer und all das bin ich einzeln und f�r sich und dennoch zugleich und in eins -

und Du bist es auch!

Springen versus Identifikation oder: Im Tanz �ber Orte gebiert sich die Welt!

Verwirrung aller Orten - Wozu? H�ren wir noch einmal, was Kaehr �ber die Abh�ngigkeit zwischen Grund und Begr�ndetem von dem jeweils eingenommenen Standort sagt. "F�r die Begr�ndung eines Ortes ist eine Vielheit von Orten im Spiel. Warum jedoch eine Vielheit von Orten? Diese l��t sich ins Spiel bringen, wenn wir die M�glichkeit der Operativit�t einer Operation uneingeschr�nkt gelten lassen." Wir �bersetzen Operativit�t hier als die grunds�tzliche M�glichkeit zum Vollzug einer kognitiven Zuschreibung, und k�nnen diese M�glichkeit erst dann als uneingeschr�nkt akzeptieren, wenn das Ursache-Wirkung-Verh�ltnis (die Operation) zwischen T�ter und Opfer alle m�glichen relationalen Verbindungen durchlaufen hat. Umgekehrt aber (noch eine verborgene Dialektik) erw�chst nur aus der uneingeschr�nkten Operativit�t, also im Vollzug der maximalen Aussch�pfung der Operation die M�glichkeit, den eigenen Standort �berhaupt als den eigenen Ort zu generieren, und dies wiederum nur in dem Ma�e, in dem a) einerseits der andere Ort durch die Setzung des eigenen Ortes (erst) mit gesetzt wird (und umgekehrt), und in dem b) andererseits der eigene Ort sich zugleich in die Vielheit seiner selbst verteilt, um wie in a) simultan die Vielheit der anderen Orte zu er�ffnen. Weniger kompliziert beschreibt dies Kaehr: "Erst durch das Beziehungsgef�ge wird das Objekt als das bestimmt, als das es im Kontext fungiert. (Es gibt also nicht erst die Br�ckenpfeiler �ber die dann die Br�cke gespannt wird.)".

Hier dann manifestiert sich eine nicht unerhebliche Transformation des klassischen Weltbildes, was hier zum Ausdruck kommt, ist eine wesentlich andere Sichtweise auf die Dinge, doch brauchen wir nicht voll ausgebildete Philosophen, Metaphysiker, Ontologen, Linguisten oder polykontexturale Logiker zu sein, um fruchtbringend an dem, was Gotthard G�nther als transklassische Rationalit�t uns nahegebracht hat, partizipieren zu k�nnen. Es reicht die Erinnerung an das vermutlich ber�hmteste Statement eines der hervorragendsten Vertreter des klassischen Denkens: "Die Welt ist alles, was der Fall ist.", beginnt Ludwig Wittgenstein seinen Tractatus logico-philosophicus, und wir k�nnen fortfahren: "Wenn es also der Fall ist, da� ich die Bestimmung meines Seins nicht vorgegeben in der Welt finde, sondern sie erst im vielf�ltigen Wechselspiel entstehen, wenn das Ich bin f�r sich allein nur die Fiktion eines angebbaren Sinnes ist, wenn also das Ich bin mir nur erw�chst in der Gleichzeitigkeit des Ich bin auch, Ich bin zugleich, Du bist, Du bist auch, Du bist zugleich, dann ist die Welt nur soweit das, was der Fall ist, wenn ich mit Dir von Fall zu Fall durch die Vielheit der Orte springe."

Hier ist das Springen und der Sprung im Sinne des Wortes Ursprung der Welt, und das In-der-Welt-sein des Klienten wird ungleich sein zu dem, was es davor sein konnte. Es ist eine andere Welt, in der er sich bewegt, und er bewegt sich in der Welt nur, wenn er sich bewegt - wenn er springt.

Wenn einer springt, wer springt denn dann?

Wir wollen nun zum Ausgangspunkt unserer �berlegungen zur�ckkehren und die Frage nach der Applikationsf�higkeit des chiastischen Modells einer komplexen, dynamischen Identifikationsmodulierung stellen. Da� wir uns nicht an reinen Glasperlenspielen erfreuen, sollte am Beispiel der f�r die Paartherapie vorgestellten Intervention bereits deutlich sein, doch stellt sich die Frage nach dem Leistungsverm�gen des Schemas f�r das Individualgespr�ch. Ist - um konkret zu werden - ist die Chiastik als vielfach verteilte und verkn�pfte Struktur transponabel, wenn doch das Relationsgef�ge und die damit initiierte wechselseitige Entdeckung von Abh�ngigkeits-, Koinzidenz- und Umtauschrelationen doch immer zwei Klienten voraussetzt?

Wir antworten mit einer Gegenfrage: Dr�ckt sich die Individualit�t einer Einzelperson tats�chlich als statischen Einheit aus, die - wenn auch wandelbar - stets als homogener, distinkter, monolithischer Block begegnet? Wohl kaum. Statt dessen sprechen wir immer schon von komplexen Pers�nlichkeiten, d.h. von einem Zusammenspiel vielschichtiger, disparater, sich verst�rkender und antagonistischer Strukturen, die wir zus�tzlich noch auf verschiedenen Ebenen, habituell, kognitiv und emotional, unterscheiden.

Wenn es also darum geht, der nach klassischem Denken zwangsl�ufig statisch und absolut verlaufenden Identifikation, eine Dynamik zu verleihen, die im Zuge dieser Dynamisierung des Ichs zugleich eine helfende und perspektiv�ffnende Modulation an dem vormals notwendig ebenso statischen Weltbild des Klienten in Gang bringt, dann k�nnen wir also immer auf die mitunter von dem Leidensdruck verdeckte Komplexit�t der Person zur�ckgreifen.

Zwei Wege und ein Irrweg

- der Irrweg der Negation

Zwei Wege stehen damit im wesentlichen bereit, gegen�ber denen sich ein Weg bereits als Irrweg erkennen l��t: Der Chiasmus kann sich nicht negational aufspannen, will sagen: Im Beispiel des Trinkers ist der Antagonist des Protagonisten "Trinker" nicht der "Nicht-Trinker". Dieses Verbot sprechen wir nicht aus, um anzuzeigen, da� die Anonymen Alkoholiker etwa zurecht auf der Einsicht bestehen, "Einmal Trinker, immer Trinker!" Vielmehr handelt sich um die Konsequenzen grunds�tzlicher logischer �berlegungen, die damit ihre G�ltigkeit unabh�ngig von der jeweiligen Semantik, von dem konkreten Beispiel beanspruchen:

Wenn das Relationgef�ge (T�ter � Opfer) sich zwischen (A � nicht-A) installiert, gibt es keine Relation zwischen zwei distinkten Teilnehmern, der propositionale Gehalt ist jeweils identisch, das "A" ist in beiden F�llen das gleiche "A", und die Identit�t von "A" bleibt von der Negation vollkommen unangetastet. Dialektische Gegens�tze also etablieren sich nicht zwischen reiner Position und Negation, sind also keine kontradiktorischen Widerspr�che (A oder nicht-A; T�ter - nicht-T�ter, Proletariat - nicht-Proletariat, Subjekt - nicht-Subjekt), sondern gr�nden als kontr�re Gegens�tze (A oder B; T�ter - Opfer, Proletariat - Kapital, Subjekt - Objekt) die ihnen inh�rente progressive Entwicklungsm�glichkeit.

Zwei Wege und ein Irrweg

- erster Weg: dicht an der Semantik

Zur�ck zu unserem Beispiel.

Als erste M�glichkeit auf dieser Basis kann das chiastische Springen seinen Ausgang zun�chst von der stark kausal motivierten Relation nehmen. Grund und Begr�ndetes, Ursache und Wirkung liefern dann die Grundlage, auf der Proponent und Opponent das Spiel ihrer wechselweisen Neusituierung beginnen k�nnen. Solche Gegenspieler sind im Fall des Trinkers leicht zu finden, sie begegnen im allgemeinen in den Begr�ndungs- und Entschuldigungsstrategien: "Ich bin Trinker, weil ich Arbeitsloser, verlassener Liebhaber, tyrannisierter Ehemann, �berforderter Vorstandsvorstandsvorsitzender, bargeldloser Numismatiker, ... bin."

Hier gibt es sicherlich Ankn�pfungspunkte, die ohne Probleme einen Dialog initiieren, der in der Paartherapie je als Ausgangsbasis, als der zu Grunde liegende Konflikt, in der Verdoppelung der Wahrnehmungspositionen, resp. in der gegenseitigen Schuldzuweisung schon vorhanden ist. "Du bist der Schuldige, weil Du fremdgegangen bist!" "Nein, wenn Du Dich nicht so verweigern w�rdest, w�re das alles nicht passiert!" Setzen wir hier analog "Trinker" und "Arbeitsloser" ein, dann wird sich sehr schnell ein komplexes Beziehungsgef�ge einstellen, in dem der Klient die alte Identifikation "Trinker" in ihrer Pr�existenz hintergehen kann, wenn er, im Hin-und-Her-springen �ber Abh�ngigkeiten, Machtgef�lle, deren Umkehrungen und �quivalenzen hinweg, allm�hlich zu der emotionalen und kognitiven Wahrnehmung gelangen kann, da� er weder im Moment, noch bis ans Ende seiner Tage in der Existenzform "Trinker" aufgehen mu�, weil ihm das statische "Ich bin ... " buchst�blich in den H�nden zerrinnt. Hier bricht mit der Dynamisierung seines (So- und In-)Seins zugleich auch die diesbez�gliche Welt in ihrer bisherige Gestalt zusammen, das In-der-Welt-sein kann sich reformulieren.

Zwei Wege und Irrweg

- zweiter Weg: die Konfrontation mit der Struktur

Der andere Weg, den Chiasmus als Interventionsm�glichkeit zu instrumentalisieren, verl��t nun auch noch die semantische Fundierung, die f�r den kausalen Begr�ndsszusammenhang der T�ter-Opfer-Relation notwendig ist. Statt dessen wird versucht, ein rein strukturelles Beziehungsgeflecht zu installieren, in dem die inhaltlichen Aspekte/Ankn�pfungen nur noch eine prop�deutische Rolle spielen. Hier werden dann nicht nur die Agenten/Reagenten von der unmittelbaren Problematik abgel�st, sondern auch die Spezifik der Relation (bislang also Kausalit�t) wird aufgel�st.

Etwa:

"Ich bin Trinker aber Vater

und Rosenz�chter

auch Ern�hrer

deswegen Sohn

obwohl Zwangsneurotiker

indem Ehemann

wenn Pedant

zugleich Urlaubsjunky

weil Liebhaber

obgleich Bastler

nachdem Tagtr�umer

da Arbeitsloser

... ..."

Innerhalb dieser Kombinatorik, denn es handelt sich nicht um eine lineare Reihung, innerhalb dieser beliebigen Kombinationsm�glichkeit also entsteht ein Strukturzusammenhang, der die inhaltliche F�llung immer st�rker ausd�nnt, der im Idealfall seinen "Aha-Effekt" gerade nicht aus der �berraschenden Einsicht bezieht "Ja, stimmt, das bin ich auch. So habe ich mich noch nicht gesehen.", da damit der semantische Boden noch nicht verlassen ist. Vielmehr geht es darum, im Springen und Durchleben der sprunghaft sich neu gr�ndenden Existenzen eine emotional-kognitive Manifestation davon zu generieren, da� der Einheitsraum "Ich" per se eine vieldimensionale Komplexion unterschiedlichster, konkurrierender, divergierender und indifferenter Aggregatzust�nde ist, eine Komplexion, die - und das ist entscheidend - nur als Proze� permanenter Entscheidung, als kontinuierlicher Selbstentwurf vorhanden ist.

Um dies zu verdeutlichen, und aus Gr�nden erh�hter Praktikabilit�t, k�nnen wir die kombinatorische Liste, wie sie oben als ein m�gliches Beispiel aufgef�hrt ist, nun noch weitergehend komprimieren. Das Ziel w�re dann eine anwenderfreundliche Formel, die in doppelter Funktion einerseits den strukturellen Aspekt erlebbar werden l��t, und die andererseits diese Erlebnisqualit�t f�r den Klienten er�ffnet, ohne an seine Identifaktion appellieren zu m�ssen. Eine M�glichkeit dazu scheint uns gegeben zu in der Formel

Ich als A bin X, Y, Z ...

Durch die Wendung Ich als ist der Klient unmittelbar in einen dissoziierten State verwickelt, er identifiziert sich nicht als A ("Ich bin A"), sondern beobachtet/beschreibt sich als A. Ist damit aber der Grundmechanismus der Identifaktion mit einem wie auch immer gefa�ten Pr�dikat erst einmal entkoppelt, dann kann aus dieser Beobachter-Perspektive heraus die Zuschreibung beliebiger Attribute erfolgen. Die Gefahr einer Identifikation mit den Attributen ist hier gebannt, denn es f�hrt kein direkter Weg mehr von Ich hin�ber zu bin dies oder jenes.

Ohne an existentialistische Maxime erinnern zu m�ssen, k�nnte als Blockade-L�sung und strukturell-perspektivische Neuorientierung dann das Bewu�tsein entstehen, da� das jeder Statik beraubte Selbst �berhaupt nur als aktualer Vollzug des Zu-sich-selbst-Verhaltens und also nur als permanente Entscheidungssituation besteht. An die Stelle der passiven Identifikation mit einer stereotypen Rollendefinition kann so die Wahrnehmung treten, da� die Rolle, sei es als Agent oder Reagent, allein aus der invers-bilateralen, chiastischen Gleichzeitigkeit von Agent und Reagent erw�chst, womit die Exekutiv-Gewalt an der Rollen-Stereotypie immer schon eine verteilte und vermittelte ist. Verteilt und vermittelt �ber die vier Orte des Chiasmus, die nicht nicht bezogen werden k�nnen, die somit selbst das noch all zu statische Ziel unserer Therapie �berborden: den Status maximaler Wahlm�glichkeiten.


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